Page 137 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die Flugmythe von Schöpfung und Erlösung 135
Wenn die Seele dir auch über die eigne Zeit
Sich die sehnende schwingt, trauernd verweilest du
Dann am kalten Gestade
Bei den Deinen und kennst sie nie [...]. (VV. 45-48)
Die Rousseau-Ode ist hier bewußt als Beispiel für die ikarische Stilisierung des
messianischen Genius gewählt. Rousseau nahm lebhaft an der Kontroverse über
die technische Möglichkeit des Menschenflugs im 18. Jahrhundert teil. Sein Bei
trag zu dieser Debatte, die technische und philosophische Seite der ars volandi
noch nicht schied, spielt unter dem Titel Le nouveau Dedale (1742) sogar auf den
Ikarusmythos an.
2. Herleitung der mythologischen Arbeitsbegriffe
Die theologischen und biblischen Wurzeln des Flugbildes (jüdische Weisheitslehre
und Präexistenzdenken) versorgen das Bilderfeld von Flug, Flügel und Auf
schwung mit messianischen Bedeutungen. Diese messianische Grundbedeutung
der Flugidee, verewigt im präexistenten Messias und „Menschensohn“ Daniels
(Da 7, 13), der von oben kommt und der Himmel und Erde nur beflügelt
verbinden kann, schwingt oft mit, wenn Hölderlin von Flugwesen, Flügel oder
Fittich spricht. Mit einer genauen Typologie werde ich das im Einzelfall
nachweisen (vgl. Kapitel III.3). Jüdische Messiasvorstellung („Menschensohn aus
den Wolken des Himmels“) und griechischer Raumbegriff („Kosmos“) lösen sich
im Flugbild poetisch auf. Das konnte nur in der kreativen Kultursynthese im
hellenisierten Diasporajudentum in der Epoche vom 2. vor- bis zum
2. nachchristlichen Jahrhundert geschehen, in der die Weisheitsliteratur und die
Schriften Philos entstanden. Aber die Flugvorstellung beschreibt nur eine Facette
des kommenden Retters: sein überirdisches Wirken, sein Schweben zwischen den
Sphären, die Singularität seiner göttlichen Kraft, die alles Bestehende schlagartig
verwandelt. Hinzu kommt ein zutiefst irdisches Element, die politische Potenz
des Messias, die kämpferische Kontur seiner engelgleichen Gestalt als „heiliger
Wächter“ (Da 4, 10).
Beide Aspekte der Messiasvorstellung, geistige Transzendenz und körperliche
Diesseitigkeit, bannt Hölderlin in seine ikarisch-herakleisch Doppelfigur. Die bei
den mythischen Figuren, die dem Doppelbegriff zugrundeliegen, sind jeweils
Ausdruck eines übergeordneten Topos: des Topos der Erhebung. Ikarus ist der
Mensch, der sich naiv über das Mittelmaß erhebt und schließlich scheitert;
Herakles ist der Heros des menschlichen Kampfes, der sich sentimentalisch an
Übeln und Mühsal der Welt abarbeitet. Mit seiner Erhebung in den Olymp,
seiner „Himmelfahrt“ erwirbt er sich quasigöttliche Kompetenz. In der
spezifischen Gestaltung des antiken Helden bei Hölderlin (‘Das Schicksal’, ‘Dem
Genius der Kühnheit’, ‘An Herkules’) und Schiller (‘Das Ideal und das Leben’;
Brief an Humboldt vom 29./30.11.1795) erwirbt sich Herakles eine Art messia-
nischer Lizenz. Rache und Reinigung durch die Tat, aber auch Läuterung im