Page 139 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die mythologischen Arbeitsbegriffe           137


       Gegensatz  zu  eindeutig  hybriden  Gestalten  in  Hölderlins  Schaffenshorizont  wie
       Prometheus,  Ixion,  Empedokles  oder  Alabanda,  aber  auch  Antigone,  Aias  und
       Oedipus).
           Denn  Ikarus  und  Phaethon  tragen  den  Keim  des  unschuldigen  Opfers  zu­
       mindest  für  die  christliche  Phantasie  schon  in  sich,  wie  die  typologische
       Interpretation und Ikonographie des Ikarus- und Phaethonmotivs beweist.  Immer
       wieder  wurden  die  beiden  Gestalten  als  mythische  Entsprechung  oder  gar  heid­
       nische  Präfiguration  Christi  und  seines  Sühnetodes  gedeutet.  Vor  allem  der
       Mythos  von  Ikarus  bietet  in  der  humanistischen  Deutung  des  16.  Jahrhunderts
       einige  Anhaltspunkte  dafür,  die  Tragik  seines  Sturzes  im  Sinne  christlicher
       Denkfiguren wie „Sühnetod“ oder „bestrafter Neid“ zu verstehen (vgl. Wyss  1990:
       38ff.).  Mit  dieser  christlichen  Deutung  der  tragischen  Geschichte  von  Flug  und
       Fall bei Ovid erhielt der Ikarusmythos bereits eine typologische und messianische
       Valenz,  die  im  18.  Jahrhundert  den  Keim  für  die  Überwindung  des  Tragischen
       gebildet  haben  könnte.  Das  werde  ich  unten  anhand  einer  Bildbetrachtung  des
       Ikarusbildes von Pieter Bruegel noch genauer ausführen.
           Die  tragische  Facette  des  Ikarusmythos  und  die  heroische  Konnotation  der
       Heraklesfigur  bilden  die  Dialektik  der  mythomessianischen  Doppeltypologie-. Sie

       sind  Reflexe des Zugleichs von Knechts- und Königsgestalt, von Schmerzensmann
       und  Triumphator.  Sie  begründen  damit  die  Doppelnatur von  Hölderlins  Über­

       winderfiguren  des  Tragischen:  von  Chiron  oder  Odysseus.  Denn  Chiron  ist  die
       erste mythische Figur Hölderlins,  die ihr Leiden  (Vergiftung durch die  Pfeile des
       Herakles) nicht selbst verschuldet hat wie Promethues, Ixion oder Ganymed,  also
       nicht  durch  Hybris  zwangsläufig  dem  Untergang  geweiht  ist,  sondern  in  der
       Erwartung  messianischer  Erlösung  ihr  absurdes  und  paradoxes  Leiden
       überwinden  wird.  Noch  in  der letzten tragischen  Ode vor den  „Nachtgesängen“,
       in  ‘Natur  und  Kunst’,  trägt  die  Jupitergestalt  hybride  Züge,  denn  der  oberste
       Olympier  warf  seinen  titanischen  Vater  in  den  Abgrund.  Saturn  als  Vertreter
       eines  Goldenen  Zeitalters  antizipiert  allerdings  eine  erste  Überwindung  des
       Tragischen durch eine messianische Ära, ohne den Umbruch schon zu vollziehen.
       Empedokles und Alabanda begehen Selbstmord; Hyperion endet in Isolation und
        Exil.
           Die  ikarisch-herakleische  Doppelfigur  mythisiert,  was'  im  Theologem  des
        kommenden  Messias eine  abstrakte  Idee  bleibt. Jede  Mythisierung  ist  ja  letztlich
        der Versuch, ein Göttliches und Übergeschichtliches zu historisieren und zu poli­
        tisieren.  Zudem  wahrt  der  Dichter  die  ursprünglich  anthropomorph gedachte

        Gestalt des „Menschensohns“  (Da 7,  13)  und „Wächters“  (4,  10)  in seiner Mythen­
        figur. Denn „Menschensohn“, „Wächter“ und „Engel“ sind im jüdischen Sinne des
        Buches Daniel  nur Topoi:  der Menschensohn ist topisch,  nicht wörtlich  gemeint.
        Er  ist  der herausgehobene,  besondere  und  auserwählte  Gerechte  unter  den  Men­
        schen,  der  sich  aus  dem  Geist  der  präexistenten  Messiasidee  legitimiert.  Das
        kommt z. B. auch in der kollektiven Struktur dieses Messias zum Ausdruck, wenn
        Daniel ihn mit dem „Volk der Heiligen des Höchsten“ gleichsetzt (Da 7,  18 u. 27).
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