Page 140 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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138                 III.  Kapitel: D er Flug des G enius


          Das Christentum  faßt  den  „Menschensohn“  Daniels dagegen  als Präfiguration  des
          himmlischen  Christus  auf,  als  leiblichen  Sohn  Gottes.  Präzise  gesprochen,
          verbindet  die  christliche  Tradition  dabei  mehrere  Messianologien  oder
          „Sohnschaften“  Jesu,  so  z. B.  die  politische  Vorstellung  vom  Davidssohn  (ben

          David), die  anthropomorphe  vom  „Menschensohn“  (mog  öcvGpcbnov))  und  die
          theomorphe vom  „Gottessohn“  (moq  Geoö), vgl.  dazu RAC  12:  19-58,  besonders
          42 und 45 (==  Colpe  1993: III, 243-262 bzw. 254 und 256).
              Die  entworfene  Doppelgestalt  vermenschlicht  die  messianische  Disposition,

          indem sie die Erlösungsidee mythisch, das heißt von unten nach oben aufbaut. An­
          thropomorphe  und  theomorphe  Züge  bringt  Hölderlin  in  seinen  poetischen
          Figuren  zum  Ausgleich.  Wie  in  einem  Magnetfeld  verkörpern  Ikarus  und
          Herakles die beiden Gegenpole archetypischen Handelns:  das Scheitern des reinen
          Geistmenschen,  der sich  über den  Boden  des  Wirklichen  und Machbaren  erhebt;
          und  die  erfolgreiche  Selbstvergötterung  des  Herakles,  der  sich  dem  Körperlich-
          Realen  mit  seiner  reinigenden  und  befreienden  Arbeit  entgegensetzt.  Beide  Pole
          des  Bilderfeldes  realisieren  die  äußersten  Möglichkeiten  des  Erhebungstopos  in
          zwei Mythologemen:  das Ikarische  den  Aufschwung zur Sonne und den  Sturz ins
          Meer;  das Herakleische  die vollendete Himmelfahrt  des großen einzelnen,  der sich
          durch  Tätigkeit  und  Leiden  zum  Halbgott  emporsteigert  (zur  elevatio des

          Herakles  bei  Schiller  vgl.  KSA  I:  939ff.;  SNA XXVIII: 22;  26  bzw.  367;
          Pestalozzi  1970:  78-101.  Wichtigste  literarische  Parallele  dazu  ist  wohl  „Fausts
          Himmelfahrt“ am Ende des zweiten Teils der Tragödie, vgl. Schöne  1994).
              Neben  den  Flug-  und  Tatmythen  spielen  noch  andere  mythische  Figuren
          eine  wichtige  Rolle.  Dieses  Figurenfeld  von  Hölderlins  messianischer
          Mythogenese werde ich im folgenden genauer beschreiben.

                         3. Das Bilderfeld des Ikarischen und Proteischen

          In den Tübinger Hymnen und vor allem im Hyperion132 favorisiert Hölderlin die
          Flugmetaphorik.  Sie  wird  zum  Mythologem  des  idealistisch  beflügelten 1
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           132  Implizit  spielt  Hölderlin  im  Hyperion auf den  Ikarusmythos  auch  an  anderer  Stelle  an:

              Wenn  er  seine  jugendliche  Naivität  verwirft,  faßt  Hyperion  seinen  Schmerz  in  ein
              ikarisches Bild:  „[...] wer reißt  auch gerne die  Flügel  sich aus?“  (KHA  II: 46,  ZZ. 27f.).  Im

              Moment  der  Erschütterung  und  Krise  spricht  Hyperion  stets  in  einer  Wendung  mit
              ikariscber  Nuance:  „Ich war, wie  aus den Wolken gefallen.“  (KHA II: 41, Z.  1).  Nachdem
              Hyperion seine Enttäuschung über die  Widerwärtigkeit  des  Freiheitskrieges  überwunden
              hat,  vergleicht  er  sich  gegenüber  Bellarmin  mit  einem  „Adler,  dem  der  blutende  Fittig
              geheilt ist [...]“ (KHA II: 74, ZZ. 16f.). Eine fast ironische Wendung nimmt das Ikarische in
              Diotimas  Antwort  auf  Hyperions  Klage,  daß  sich  ihm  die  Gedanken  verflüchtigten:
              „Reißen  sie  [die  Gedanken,  R.  C.] wieder  aus  in die  Luft?  erwiderte  meine  Diotima.  Du
              mußt  ihnen Blei  an  die Flügel  binden,  oder ich  will  sie  an  einen  Faden knüpfen,  wie der
              Knabe  den  fliegenden  Drachen,  daß  sie  uns  nicht  entgehn.“  (KHA  II: 76,  ZZ. 3-5).
              Hyperion bewundert  Alabanda auf dessen „küh[ner] Irrbahn“  (KHA II: 38, Z. 36).  Seinen
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