Page 141 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Ikarisches und Proteisches 139
Geistmenschen, der sich optimistisch der herakleischen Wirklichkeit und der
politischen Tatsphäre überhebt. Erst in Hölderlins spezifischer Mythisierung wird
aus der Flugmetaphorik eine ikarische Bildlichkeit.
Zwar konkretisiert Hölderlin seine Gestaltungsabsicht des Ikarusmythos erst
sehr spät;133 aber der Ikarusmythos ist Hölderlin seit seiner Ovid-Ubertragung
‘Hero an Leander’ und seiner ‘Phaethon’-Nachdichtung vertraut.
Die Notiz und die Verarbeitung des Mythos in den Übesetzungen lassen die
spekulative Rekonstruktion von Hölderlins Umformung des Ikarusmythos zu. In
einer Schlüsselpassage der Scheltrede aus dem Hyperion setzt Hölderlin dem
„wächsernen Flügel“ der deutschen „Musenjünglinge“ (das heißt: ihrer ideali
stischen Begeisterung) die Notwendigkeit von „Proteuskünsten“ entgegen. Dieser
„proteischen“ Selbstverwandlungskünste bedürfen die deutschen Intellektuellen,
da sie aus der Enttäuschung ihres Überschwanges gelernt haben (KHA II: 120,
ZZ. 25ff.). Proteus, Nereus und Odysseus (in Bettlersgestalt auf Ithaka) sind my
thische Beispiele für diese Kunst der Selbstverwandlung und -verbergung.
Wie das ikarische Bild dialektisch mit seinem herakleischen Gegenbild ver
koppelt ist,134 verdeutlicht Hyperion, indem er seine eigene Naivität und altkluge
Diskussionspartner und „Waffenbruder“ (KHA II: 36, Z. 36) bezeichnet Hyperion als
beides zugleich, als ikarischen Bruder und herakleischen Gegenpart. Wie die Dioskuren
Kastor und Pollux verköpern die beiden Antagonisten einen geistigen und einen tätigen,
einen sterblichen und einen unsterblichen Wesensteil (vgl. KHA II: 44, ZZ. 15-22). Auch
lmlizite Flugbilder haben im Hyperion Hochkonjunktur. Schon im zweiten Satz des
Romans „hebt“ der Ich-Erzähler Hyperion gleichsam „ab“, seine Seele „fliegt oft hin und
her zwischen den Meeren“ (KHA II: 14, ZZ. 6f.). Hyperion träumt nur zu gerne davon,
mit Diotima in einer imaginären Flugreise zu entschweben (vgl. KHA II: 80, ZZ. 29-33).
Interessant ist auch folgende Wendung (Hyperion spricht): „Mein Roß flog, wie ein
Pfeil, ihm zu.“ (KHA II: 33, Z. 13) Liest man das Bild als implizite ikarisch-herakleische
Figur, so ergibt sich: Hyperion fliegt Alabanda, seinem bewunderten Vorbild an Kraft und
Heldentum, wie auf einem Pegasus entgegen (und dem Bild vom „Feuerreiter“ [Nina
Grosse] gar nicht so fern). Der ikarische Hyperion eignet sich dabei das Attribut des
Kriegerischen und Ritterlichen an (er sitzt auf einem Pferd, um mitzukämpfen). Das
„fliegende“ Pferd dagegen bringt die herakleische Bedeutung wiederum ins Schwanken und
zeigt die Problematik von Hyperions Zerrissenheit. Im Grunde ist er doch nur ein
musischer Künstlertyp und Intellektueller. Der mythische Reiter des Flügelrosses dagegen
ist der Heros Bellerophontes, den Hyperion damit unwillkürlich nachahmt. Die höchst
kunstvolle Wendung oszilliert somit permanent zwischen ikarischen und herakleischen
Valenzen.
133 Vgl. den Plan zu einem Ikarus- oder Phaethongedicht, FHA Suppl. III (Stuttgarter Folio
buch. Faksimile-Edition) Blatt 50 b 2 0 verso.
134 An dieser Stelle übernehme ich Hölderlins Regel der harmonischen Entgegensetzung auf
der beschreibenden Ebene. Die analytischen Begriffe erhalten dadurch ein synthetisches
Moment. Das ist noch keine Kontamination der Arbeitsbegriffe, weil Hölderlin derart
eindringlich an seiner Ästhetik und Poetik der harmonischen Entgegensetzung arbeitet,
daß dieses Prinzip auch als konstitutives Moment seiner Poesie angesehen werden muß
(vgl. dazu: „Uber die Verfahrungsweise des poetischen Geistes“: „Setze dich mit freier Wahl