Page 142 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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140                 III.  K apitel: D er Flug des G enius

           Vergeistigung  als  Phase  von  „Krücke“  und  „wächsernem  Flügel“  (KHA  II:  120,
           ZZ. 25-28)  anspricht,  den  tatbegeisterten  und  politischen  Alabanda  dagegen  mit
           einem  „Herkules“  vergleicht  (KHA  II: 39,  ZZ.  15f.).  Immer  wieder  spiegelt  das
           ikarische Bilderfeld das Flugbegehren eines geistigen Ichs, sei es als brüderliche Ver­
           schmelzung  mit  einem  starken  Du  (z. B.  ‘An  Herkules’,  VV. 9-16),  oder  als

           plötzlicher „Flugraub“  durch  eine väterliche Instanz  (z. B.  die Entführung des ly­
           rischen Ich durch den  „Genius“  in ‘Patmos’ I, VV.  16-20).  Das Flugraubmotiv ist
           oft  mit  einem  Flugbegehren  des  Entführten  gekoppelt  und  klingt  schon  im

           Hyperion an (vgl. KHA II:  37, ZZ. 30-32).
               Damit  ist  das  semantische  Feld  der  komplementären  Mythisierungen,  be­
           rücksichtigt man das Herakleische  als Zwischen- oder Übergangsstufe, mit dem Be­
           griffspaar des Ikarischen  und Proteischen  eröffnet. Die Begriffe
                         Ikarisch-Herakleisches  versus Proteisches

           bilden den Grundgegensatz von Hölderlins mythogenetischem Denken:  ikarisches
           Theorie-   und   Geistprinzip   hier   -   proteische    Anpassungs-   und
           Selbstverwandlungskunst  dort.  Die  beiden  Arbeitsbegriffe  verkörpern  die
           jeweiligen  metaphorischen  Vorlieben,  die  Hölderlin  gemäß  diesen  Polen  seines
           Denkens  (und  Phasen  seines  Schaffens)  hegt:  das  Ikarische  die  Flug-  und

           Vogeltopik;  das  Proteische die  Metaphorik  von  „Strom“,  „Verwandlung“  und
           „Fließen“.
               Auch  die  poetologische135  Bedeutung  des  „Proteus“  und  der  Erzählung
           Homers vom Meergreis, der das Form- und Farbenspiel des Wassers personifiziert


           (Odyssee IV,  383-456),  stützen  dieses  Gleichsetzung  des  Proteischen mit  dem
           Prinzip  des  stromhaften  und  metamorphotischen  Übergangs  (im  folgenden  die
           Übersetzung von Johann Heinrich Voss):







               in  harmonische  Entgegensetzung  mit  einer  äußeren  Sphäre,  so  wie  du  in  dir  selber  in

               harmonischer Entgegensetzung  bist, von  Natur,  aber  unerkennbarer  weise  so  lange  du  in
               dir selbst bleibst.“ (KHA II: 543, ZZ.  1-4  - Hervorhebungen original).

            135  Der  Begriff des  Proteischen evoziert  zunächst  eine  rhetorische  Spielart,  die  auf den  Dich­
               tungstheoretiker Scaliger  (mit den schönen Vornamen  Julius  Cäsar“)  zuriickgeht und die

               er proteus poeticus  nennt  (vgl. lulii Caesaris Scaligeri Poetices libri septem, 1561, S. 73 - zit. n.
               Wagenknecht  1971:  10).  Der  Hexameter  „Perfide  sperasti  dfuos  te  fallere  Proteü“  (Übs.:
               „Frevelhaft hast du, Proteus, die Götter zu täuschen gehofft“) charakterisiert nicht nur in­
               haltlich  das  Wesen  des  Meergreises,  sondern  reizt  auch  zu  einem  formalen  Spiel:  „Den
               Namen bekommt der Vers erst aufgrund der Möglichkeit, daß die Wörter, aus denen er be­
               steht, beinahe unzählig oft, wie Scaliger versichert, ihre Plätze wechseln können. [...] Einen
               Proteus  aber bildet für Scaliger ein solcher Vers nur dann, wenn sein Gedanke den vielfa­
               chen Platzwechsel der Wörter nahelegt.“ (Wagenknecht  1971:  1).
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