Page 144 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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142 III. K apitel: D er Flug des G enius
Da die Begriffe des Ikarischen und des Proteiscben wiederum Binnengegensätze ein-
,
schließen (Ikarisch-Herakleisches Proteisch-Dionysisches) möchte ich den ersten
Bereich als „Flugfigur“ vereinfachen und das zweite Bilderfeld entsprechend als
„Stromfigur“. Diese Unterscheidung verleitet dazu, von den personalen Mythi-
sierungen (Ikarus, Fierakies; Proteus, Dionysos) zu abstrahieren und das verall
gemeinerte Bildsubstrat der vier Arbeitsbegriffe zu isolieren: ikarisch-herakleische
Flugtopik und proteisch-dionysische Pflanzen- und Strom-Metaphorik. Das ergibt
die abschließende Antithese von
Flugfigur versus Stromfigur.
Flug- und Stromfigur ermöglichen es, ein überfigürliches mythisches Bildsubstrat
zu gewinnen, das sich jeweils einer poetischen Intention zuweisen läßt: die Bilder
von Schwebe, Flug und Fittich der messianisch-heroischen Selbststilisierung im
Enthusiasmus der Frühphase; Stromallegorien und Pflanzenheraldik der meta-
morphotischen Selbstverbergung in der Spätphase. Auch ikarische (Flug, Fittich)
und herakleiscbe (Kraft, Kühnheit) Bildelemente geraten schließlich in den Sog des
proteiscben Gestaltenwandels (vgl. Kapitel III.3.3). Die Abstraktion von der perso
nalen Gestaltung einer Mythe erlaubt es, die ikarisch-herakleische Struktur noch in
Wendungen und Bildern zu erkennen, in denen der figürliche Gehalt des Ikarus
oder Heraklesmythos fast bis zur Unkenntlichkeit verflüchtigt ist.
Ein gutes Beispiel dafür bildet der Ausdruck „kühne Boreasse“ für die revolu
tionär gestimmten „Jünglinge“ in der zweiten ‘Hymne an die Freiheit’:
Ehrerbietig senkten ihre Flügel,
Ihres Raubs vergessen. Falk und Aar, 10
Und getreu dem diamantnen Zügel
Schritt vor ihr [der Freiheit] ein trotzig Löwenpaar;
Jugendliche wilde Ströme standen,
Wie mein Herz, vor banger Wonne stumm;
Selbst die kühnen Boreasse schwanden, 15
Und die Erde ward zum Heiligtum.
Das anthropomorphe Bild der „kühnen“ Nordwinde oder hesperischen Stürme
wird erst durch die Kombination von personalem und strukturellem Mythen
gehalt deutlich. Das Adjektiv „kühn“ stammt aus dem heroischen Bildbereich der
Heraklesgeschichte, die Hölderlin immer wieder personal oder figürlich gestaltet -
von den Reimhymnen (‘Das Schicksal’) bis zu den späten Fragmenten (‘Einst hab
ich die Muse gefragt...’; ‘Wenn aber die Himmlischen...’). Die ikarische Impli
kation der „Boreasse“ wird dagegen nur verständlich, wenn man sie vor dem
Hintergrund der strukturellen (und unpersönlich gestalteten) Flugmetaphorik be
leuchtet. „Wind“ und „Sturm“ gehören in einem weiteren Sinne in das ikarische
Bilderfeld (vgl. dazu auch die folgenden Unterscheidungen unter 3.1). Das
Sturmbild verstärkt diese geistige Bedeutung und nähert sie der Sphäre des
Kämpferischen. Aber Hölderlin spricht keineswegs von „Sturm“, was das Bild zu