Page 143 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Ikarisches und Proteisches               141


                    Denn der Zauberer wird sich in alle Dinge verwandeln,
                    Was auf der Erde lebt, in Wasser und loderndes Feuer.
                    [••■ ]
                    Erstlich ward er ein Leu mit fiirchterlichwallender Mähne,
                    Drauf ein Pardel, bläulicher Drach und ein zürnender Eber,
                    Floss dann als Wasser dahin, und rauscht’ als Baum in den Wolken.
                    (Odyssee  IV, 417f.; 456-458)
      Ovid schildert Ikarus dagegen als einen flugbegeisterten Heißsporn, der die Mitte
      des  Wegs  zwischen  Sonne  und  Meeresspiegel  verläßt.  Borniert  gegenüber  den
      Weisungen  seines  Ingenieur-Vaters Dädalus,  stürzt  der Junge  in  die Ägäis.  Diese
      Exzentrik,  dieser  Verlust  der  harmonischen  Mitte,  ist  ein  Pol  von  Hölderlins
      Synthesedenken.  Die  ikarische Dynamik  des  reinen  Geistprinzips  fordert  aber

      unausweichlich die Kollision mit der Welt der Tat. Die Heraklesgestalt selbst und
      verwandte  Heroen  verkörpern  diesen  Gegenpol.  Der  erste  Binnengegensatz
      innerhalb  des  Bilderfeldes  der  Erhebung  läßt  sich  damit  darstellen  als  Ent­
      gegensetzung des

                    Ikarischen mit dem Herakleischen.
      Nach  den  Kollisionen  von  Geist  und  Tat  erfährt  die  ikarische Bilderwelt  ihre



      proteische Steigerung:  aus  den  rein  ikarischen Hybrismythen  werden  herakleisch
      angereicherte  Mythen  synthetisiert,  z. B.  der  „(herrliche)  Dulder Ulyß“,  die Pro­
      metheusgestalt oder die Figur des Empedokles.  An dieser Stelle kommt es zu einer
      Verzweigung  der  mythischen  Ableitungen:  die  Hybrismythen  (Prometheus,
      Ixion,  Tantalus)  werden  ausgekoppelt  und  bilden  fortan  eine  überwundene  Stufe
      des tragischen Scheiterns.  Figuren wie Alabanda und Empedokles beschreiten mit
      ihrem  Selbstmord  den  Weg  der  titanischen  Hybris  als  Sackgasse.  Sie  verabso­
      lutieren  jeweils  eine  Seite  des  Gegensatzes,  die  ikarische  Geistseite  (z. B.

      Empedokles/Fichte)  oder  die  herakleische Tatfreude  (z. B.  Alabanda/Sinclair).
      Dieser negativen Auskoppelung des prometheischen Mythenkomplexes entspricht
      die Art und Weise, wie Hölderlin das Titanische umwertet (vgl. Häny  1948).
          Aus rein ikarischen Gestalten  (Ikarus, Phaethon)  und rein herakleischen Figu­
      ren (Herkules, Alabanda, Brüder der Nemesis, Armenion) werden proteische Dop­
      pelcharaktere  (Odysseus,  Chiron),  die  Tat-  und  Geistprinzip  vereinen  und  mit
      wechselnden  Rollen  maskieren  (Odysseus  =  Bettler,  Fremder,  Gast,  aber  auch:
      Befreier; Chiron  =  Weiser, Lehrer, Erzieher).
          Wie  man  das  Ikarische dem  Herakleischen entgegensetzen  kann,  so  läßt  sich


      auch  das  Proteische mit  einem  vierten  Begriff  komplementieren.  Die  Phase  der

      Formensuche  und  Mythenverwandlung  gipfelt  im  dionysischen Gotteskonzept,

      das  nicht  mehr  einem  strengen  Monotheismus  entspricht,  sondern  eher  einem
      vielnamigen  Synkretismus:  Götter,  Entdecker,  Könige,  Helden  und  Fürsten
      rücken an Gottes statt: das ergibt den Gesamtgegensatz
                    Ikarisch-Herakleisches  versus Proteisch-Dionysisches.
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