Page 145 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Ikarisches und Proteisches               143


       sehr  ins  Katastrophische  und  Zerstörerische  (ins  Aorgische) überführt  hätte.

       Vielmehr bannt er den nordischen Sturm der revolutionären Jünglinge mit seinem
       mythischen  Namen,  der  in  das  harmonische  Spiel  der  vier  Weltwinde  ein­
       gebunden  bleibt.  Wie  die  Ströme  so  versteht  Hölderlin  auch  die  Winde  als
       kulturstiftend und Teil  des  Organischen  (vgl.  ‘Das Nächste Beste’ III,  VV. 29-38).
       Erst jetzt fügen sich die geiststiftenden Nordwinde mit dem Kühnheitsattribut zur

       ikarisch-herakleischen Synthese:  die  „kühnen  Boreasse“  sind  die  herakleischen
       Ikarusse,  heroische  Stürmer  und  Geistmenschen  zugleich  (vgl.  dazu  auch  Jesu
       „Stürmerspruch“  Mt  11,  12;  Josephus,  Antiquitates  XVIII/9,  3  und  Taubes
       1991: 45).
           Die  Verdichtung  einer  ikarisch-herakleischen  Entgegensetzung  auf der  Ebene
       einer Wendung oder  sogar eines Wortes  nenne ich figura mythological36 Nur die


       Abstraktion  von  der  Personal- zur  Strukturmythe kann  der  zahlreichen figurae

       mythologicae in  Hölderlins  Sprachkunst  habhaft  werden.  Das  ist  die  eigentliche
       Leistung der mythologischen  Arbeitsbegriffe.  Die Abstraktion von der Figur- zur
       Dingmythe  erfordert  die Kombination  eines personalen  Mythenbildes  (Herakles,
                                                                ,
       Dionysos)  mit  einem  eher  gegenständlichen  Bildbereich  (Ikarisches Proteisches),
       der  nur  rudimentär  figürlich  ausgeführt  ist  (Plan  zu  Ikarus-Gedicht;  Proteus­
       vergleich  Hyperions).  Meine  spekulative  Konjektur  (Ikarus,  Proteus)  ergänzt
       dabei  die  Mythenfelder  des  „Herakleischen“  und  des  „Dionysischen“,  die  jeweils
       schon ausführlich  ein  Gegenstand der Hölderlinforschung gewesen  sind  (vgl.  den
       Begriff des  „Herakleischen“  bei Beißner 21969: 26;  Hötzer  1962;  Hamlin  1971/72:
       74-95;  für das  „Dionysische“  vgl.  Mommsen  1963:  345-379; Baeumer  1974;  Frank
       1982; Behre  1987; Böschenstein  1989; Hofmann  1996). 1
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        136  Ein  weiteres  Beispiel  für  die  Dichte  von  Hölderlins  figura  mythologica bildet  die
           „Himmelsflamme“  des  „Genius  der Jugend“:  „Heil!  das  schlummernde  Gefieder  /   Ist  zu
           neuem Flug’ erwacht, /  Triumphierend fühl’ ich wieder /  Lieb’ und stolze Geistesmacht; /
           Siehe! deiner Himmelsflamme, /  Deiner Freud’ und Stärke voll, /  Herrscher in der Götter
           Stamme!  /  Sei  der kühnen Liebe Zoll.“  (‘Hymne  an den  Genius der Jugend’,  VV.  1-8)  In
           der Logik der mythogenetischen Bilder Hölderlins verbindet das Wort „Himmelsflamme“
           den ikarischen Bereich des Äthers  mit dem herakleisch zerstörerischen Element des Feuers.
           Wie der Sturmwind  („Boreas“) eine Synthese eingeht mit einem Tugendattribut  („kühn“),
           so  verschwistert  Hölderlin  im  Neologismus  „Himmelsflamme“  ein  ikarisches und  ein

           herakleisches    Bild.   Inwieweit  das  verzehrende   Feuer   mit   dem   Herakleischen
           zusammenhängt, zeigt folgendes Hyperion-Zitat, das die revolutionäre Reinigungsarbeit der
           Nemesisbrüder  mit  einer  Herakles-Arbeit  vergleicht.  Die  Feuermetaphorik  betont  dabei
           vor  allem  das  Übermaß  herakleischer Tätigkeit  und  spannt  damit  den  Bogen  zum

           prometheischen  Hybrisproblem.  Auch  Empedokles  stürzt  sich  ja  bekanntlich  in  die
           „Feuerfluten“  des  Ätna:  „So  würden  wir  dir  sagen,  daß  wir  da  sind,  aufzuräumen  auf
           Erden,  daß  wir  die  Steine  vom  Acker  lesen,  und  die  harten  Erdenklöße  mit  dem  Karst
           zerschlagen, und Furchen graben mit dem Pflug, und das Unkraut an der Wurzel fassen, an
           der  Wurzel  es  durchschneiden,  samt  der  Wurzel  es  ausreißen,  daß  es  verdorre  im
           Sonnenbrände.“ (KHA II: 42, ZZ. 7-12)
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