Page 146 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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144 III. Kapitel: D er Flug des G enius
Diese Interpolationen des mythologischen Bilderfeldes machen auch Höl
derlins Entwicklung von der frühen Vorliebe für Flugmetaphorik zur Strom- und
Pflanzenmythik der Spätphase anschaulich. Für den formwandlerischen Cha
rakter des Proteischen trifft vor allem auch die Vorstellung der vegetativen
Metamorphose zu. Das offenbart die weitverzweigte dionysische Natur- und
Pflanzenmetaphorik, die oft bis in ihre feinsten Verästelungen dialektisch angelegt
ist. Man betrachte nur die konsequente Antithetik der zusammengesetzten Ding
wörter und Genitivkonstruktionen in der Spätdichtung (z. B. „Pfeilen-regen“,
‘Griechenland’ I, V. 6; „Wetter-flammen“, ‘Der Mutter Erde’, V. 16; „des
Wächters / Gesang“, ‘Der Einzige’ I, VV. 8lf. oder „Der Zunge Gewalt“, ‘An die
Madonna’, V. 35).
Ein schönes Beispiel für eine dialektische Struktur sind die „Krystall-Blumen“
aus ‘Griechenland’ I, die Vegetatives und Anorganisches, Feuer und Wasser, ver
dichten: „Blumen [...] / Gleich Krystallen in der Wüste wachsend des Meers“ (ebd.
VV. 23 und 25). Die dionysischen Dingchiffren („Lorbeer“, „Traube“, „Lilie“,
„Krystall“) erweisen sich dabei als Radikalisierung (im wörtlichen Sinne: als „zu-
den-Wurzeln-gehen“) der proteischen Personalmythen (Chiron, Odysseus).137 Die
heraldische Natursymbolik beschließt eine lange Verwandlungsreihe figürlicher
Entwürfe. Chiron symbolisiert den Vorgang der dialektischen Versöhnung der
Gegensätze in seiner Kentaurengestalt, die gleichsam die geronnene Form der ste
ten Tierverwandlung des Meergreises bei Homer darstellt.
Bei den mythologischen Arbeitsbegriffen des Ikarischen, Herakleischen,
Proteischen und Dionysischen handelt es sich um ein Mythensubstrat, das im spezi
fischen Kontext von Hölderlins klassischer Bildung, seiner Lektüre, seiner
Ubersetzungsversuche und philosophischen Spekulation zu verstehen ist. Sie sind
interpretatorische Ableitungen aus einem dichterischen Text. Zu den originalen
Mythen aus der klassischen (Hesiod, Homer, Plato, Ovid, Sophokles, Euripides
und Pindar), spätantiken (Apollodor, Diodor) und für Hölderlin zeitgenössischen
Mythographie (Hederich, Moritz, Ramler, Damm) verhalten sich diese
dichterischen Mythologeme wie hybride Formen. Es sind also systematisch drei
begriffliche Ebenen zu unterscheiden:
137 Den Übergangscharakter Chirons auf der Schwelle zur dionysischen Phase kann man mit
einer mythographischen Lesefrucht aus Benjamin Hederichs gründlichem mythologischen
Lexicon belegen, die diese Verschiebung vom Figürlichen ins Dingliche vor Augen führt:
Der Artikel aus dem Hederich referiert die ikonographische Geschichte des Kentauren.
Dabei trägt Chiron die Tier- und Pflanzenattribute des Rauschgottes: „Statt des Mantels
hat Chiron eine Thierhaut um, welche unter dem Halse zugeschürzet ist, und sein Kopf ist
mit Zweigen umwunden, welche man von dem Kraute Centaurea oder Chironion zu seyn
glaubet, dessen Kräfte er entdecket hat, wiewohl sie doch auch von Epheue seyn können,
womit die Centauren sich zu bekränzen pflegeten.“ (Hederich 1770, Sp. 70[8])