Page 147 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Ikarisches und Proteisches               145



           überlieferte Mythen   dichterische Mytbologeme   analytische Beschreibung


           Ikarus usw.       1. Flugmetaphorik      Begriff des Ikarischen usw.
                              („Flügel“ usw.)
                              2. Mythenvergleich
                              (Hyperion  =  „Ikarus“ u. a.)
       Die  Zusammenstellung macht  deutlich,  daß  das  Schema  der  mythologischen  Ar­
       beitsbegriffe  die  narrativ-plastischen  Mythenverarbeitungen  Hölderlins  ebenso
       erfaßt  wie  die  eher  lyrisch-metaphorischen  Spurenelemente  mit  mythischer  Be­
       deutung.  Das Schema bleibt  dabei keineswegs starr,  sondern  macht zwischen  den
       einzelnen  figürlichen  und  motivischen  Festlegungen  des  Mythensyntagmas  auch
       dynamische  Entwicklungen  innerhalb  des  Werkes  deutlich,  so  etwa  das  ab­
       nehmende  epische  Element  (Herakles,  Orpheus,  Prometheus  und  Tantalus
       werden im Spätwerk seltener). Auch die Verschiebung mythischer Bildgehalte ins
       Lyrische  (ikarische  Flugbilder),  ins  Hermetische  (proteische  Dingmetaphorik,
       Dionysosattribute)  und  ins  Dramatische  (Empedokles,  Aias,  Oedipus)  wird
       anschaulich.  Schließlich  macht  die Kombination  aus personaler und struktureller
       Mythensystematik auch  augenfällig,  wie Hölderlin das Plastische  der frühen My­
       thenfiguren  auflöst.  Medium  dieser  Auflösung  sind  „moderne“  Mythenformen
       und Allegorisierungen  wie  die  heraldischen  Chiffren  der  späten Fragmente,  neue
       Kunstfiguren  wie  Chiron  oder  die  Antigone  aus  der  Sophokles-Ubersetzung.  In
       diesen Neu- und Nachschöpfungen drängt Hölderlin Neue Mythologie, politische
       Messianität  und  hesperische  Modernität  auf  monströse  Weise  zusammen.
       Ausgerechnet  aus  dem  letzten  großen  heteronomen  Selbstentwurf  des  Dichters
       am Ende des  18. Jahrhunderts erwachsen die Anfänge einer autonomen lyrischen
       Sprache der Moderne.

                        3.1  Ikarische Phase: die Tübinger Hymnen

       Nicht jedes Flugbild bei Hölderlin  ist per se ikarisch, es gibt auch konventionelle

       und  modische  Allegorisierungen,  wie  sie  die  hymnische  Dichtung  der  Zeit  in
       Hülle  und  Fülle  hervorgebracht  hat  (vgl.  Böckmann  1965).  Die  Tübinger
       Hymnen  an  die  „geflügelten“  Gottheiten  wie  Liebe,  Harmonie  und  Schönheit
       oder an die Genien der Jugend, der Kühnheit und Griechenlands zeugen davon.138




        138  Immer wieder bedient sich Hölderlin mit dem Geniuskonzept einer Verkörperung kollek­
           tiver Identität,  vor allem mit  Blick  auf das  Zeitalter und die  Inselwelt der Griechen  (vgl.
           ‘Hymne an den Genius Griechenlands’, ‘Der Archipelagus’) und als Formel für das beson­
           dere Wesen der Hesperier  (vgl.  ‘An  die  Deutschen’,  V. 25;  ‘Gesang des  Deutschen’  V. 9).
           Der  Genius  vermittelt  zwischen  individueller,  göttlicher  und  nationaler  Identität  (z. B.
           ‘Germanien’, VV. 42-48; ‘Patmos’ I, W .  16-20).
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