Page 148 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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          In  diesen  Zusammenhang  gehören  auch  Hölderlins  hermetische  Vorstellungen,
          die  den  geflügelten  Botengott  Hermes  in  bildlichen  Wendungen  evozieren  (z. B.
          der Entwurf von  „Poesie“,  „Wort“  und „Gesang“  als hermaion (vgl.  Böschenstein

          1989:  12-29),  als Botschaft,  die  zwischen  Gott  und  Mensch  vermittelt.  Auch  der
          (spätere)  Ausdruck  „geflügelter  Krieg“  für  „Seehandel“,  „Seefahrt“  (‘Andenken’,
          V. 43)  impliziert  eine  hermetische  Mythe,  wenn  man  dem  Botengott  in  seiner
          Funktion  als  Gott  der  Händler  und  Seeleute  versteht  (vgl.  auch  Hölderlins
          Ausdruck „merkurialische Schwingen“, KHA II: 573, Z.  12).
              Durchaus stereotyp  staffiert Hölderlin also seine mythischen  Gottheiten mit
          „gefiederten“  Begriffen  und  Bildern aus.  Positive  wie  negative  Abstrakta können
          Flügelgestalt  annehmen,  von  der  Poesie  selbst  (vgl.  ‘Hymne  an  die  Unsterb­
          lichkeit’, V.  107) über die Schillersche „Freude“ (vgl. ‘Hymne an die Schönheit’ II,
          V.  133),  die  „Hoffnung“  (‘Hymne an  die Muse’,  V. 26)  oder „Liebe“  (‘Hymne  an
          die  Liebe’,  V.  15)  sogar  die  Zeitalter  als  „geflügelt[e]  Aeonen“  (‘Hymne  an  die
          Muse’,  V. 69).  Aber auch  die  „Sorge“  (erste  ‘Hymne an  die  Freiheit’,  V. 39)  und
          den  Tod,  den  „Würger“,  zeichnet  Hölderlin  in  Flügelgestalt  (‘Lied  der
          Freundschaft’  I,  V. 67;  ‘Lied  der  Liebe’  II,  V. 50).  Der  geflügelte  Tod  vermengt
          griechische und christliche Ikonographie, man denke nur an Schillers Todesgenius
          (vgl.  ‘Die  Götter  Griechenlands’,  V. 68)  oder  an  die  Todesengel  in  Klopstocks
          Messias  (den Nachweis verdanke ich Schmidt, KHA I: 553).
              Christliche  und  mythologische  Sphäre  verschmelzen  also  in  dieser
          beflügelten  Bildersynthese  noch  sehr  konventionell.  So  schwingen  die
          „Seraphsflügel“  der  Liebesengel  harmonisch  unter  dem  gleichen  Firmament  wie
          das  „Gefieder“ Auroras  (griech.  Eos),  der mythisierten  Morgenröte.  Es wäre ver­
          früht,  diese  Doppelvalenz  der  Flugmetaphorik  bereits  als  Indiz  für  eine
          messianische  Mythogenese  zu  halten.  Dennoch  bilden  die  Flugbilder  dieser  rhe­
          torischen  Allegorik  und  Topik  das  Ferment,  aus  dem  Hölderlin  seine  ikarischen
          Bilderfindungen  generiert.  Es  ist  nicht  zu  überhören,  wie  bereits  hier  die
          messianische  Flugvorstellung  mitschwingt,  die  ich  anhand  der  jüdischen
          Logoslehre  bei  Daniel  oder  Philo  behandelt  habe.  Zaghaft,  aber  vernehmbar
          untermalt  Hölderlin  die  modischen  Flugklischees  mit  seinem  messianischen
          Erlösungston.
              In der ‘Hymne an die Unsterblichkeit’  spiegelt Hölderlin ein Jahr nach Aus­
          bruch  der  Französischen  Revolution  die  „Schwebe“  der  Schöpfergottheit  in  der
          messianischen  „Beflügelung“  des  lyrischen  Ich  und  dessen  Kraft,  die  ganze
          „Schöpfung“ zu erlösen:
                        Froh, als könnt’ ich Schöpfungen beglücken,
                        Stolz, als huldigten die Sterne mir,
                        Fleugt, ins Strahlenauge dir zu blicken,

                        Mit der Liebe Kraft mein Geist zu dir.
                        (‘Hymne an die Unsterblichkeit’, VV.  1-4)
          Unter  der  Oberfläche  der  allegorischen  Flugtopik  schimmern  die  messianischen
          Nuancen des Wort- und Bilderfeldes aus der Tübinger Zeit. Die rhetorische Flug­
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