Page 149 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die ikarische Phase 147
figur versetzt die theologische Denkfigur in Resonanz; auch die Begriffe im
Umfeld der Flugbilder beginnen zu schwingen, Wörter wie „Schöpfungen“,
„Liebe“, „Kraft“ und „Geist“ bewahren bei aller Säkularität nach außen einen spi
rituellen Resonanzraum im innersten ihres Sinnbezirks.
Die vielen dichterischen Flüge folgen dem lyrischen Rollenspiel der Tübinger
Hymnik. Dabei gibt es drei Versionen: Das lyrische Ich imaginiert sich selbst
unmittelbar als emporschwebend oder fliegend, und zwar stets mit Blick (und
gleichsam in Flugrichtung) auf die hymnisch angerufene abstrakte Entität
(„Liebe“, „Freiheit“, „Menschlichkeit“ oder „Schönheit“, vgl. die bereits zitierten
Verse aus der ‘Hymne an die Unsterblichkeit’, VV. 1-4). Andere exemplarische
Belegstellen für die ichbezogene Flugfigur: ‘Hymne an die Unsterblichkeit’,
VV. 9-16; erste ‘Hymne an die Freiheit’, VV. 1-8; ‘Hymne an den Genius der
Jugend’, VV. 1-8.
Die zweite Rolle, die Hölderlin in den Tübinger Hymnen ikarisch kon
struiert, ist das „Du“ der hymnischen Anrede. Neben einer Fülle von
konventionellen Attributen (z. B. Hoheitssymbolen wie „Wagen“, „Zügel“ etc.)
oder Adjektiven („majestätisch“, „glühend“, „selig“ etc.) werden die „Ideale der
Menschheit“ vor allem mit der Bilderwelt von „Falk und Aar“, von „Flug“ und
„Schwebe“, „Flügel“ und „Gefieder“ personifiziert (vgl. zweite ‘Hymne an die
Freiheit’, V. 9; ‘Hymne an den Genius der Jugend’, V. 2; ‘Hymne an den Genius
Griechenlands’, V. 6; ‘Hymne an die Muse’, V. 26 und ‘Hymne an die Un
sterblichkeit’, V. 25). Drittens spricht das lyrische im „Wir“ der dritten Person
Plural, wenn es den Begeisterungsflug der „Jünglinge“ beschwört (z. B. in der
‘Hymne an die Menschheit’):
Schon fühlen an der Freiheit Fahnen 25
Sich Jünglinge , wie Götter, gut und groß,
Und, ha! die stolzen Wüstlinge zu mahnen,
Bricht jede Kraft von Bann und Kette los;
Schon schwingt er kühn und zürnend das Gefieder,
Der Wahrheit unbesiegter Genius. 30
Schon trägt der Aar des Rächers Blitze nieder
Und donnert laut, und kündet Siegsgenuß.
Wieder ist die Bildlichkeit der Verse rhythmisiert - in Vers 29 sogar gleichsam
chiastisch nach dem Schema des Tonwechsels (i-h-h-i): die Wörter „schwingen“
und „Gefieder“ sind ikarisch-, „kühn“ und „zürnend“ herakleisch konnotiert. Ohne
sich explizit der Ikarusfigur zu bedienen, versetzt Hölderlin so seine hymnischen
Instanzen in den Resonanzraum seines Mythenkosmos. Wichtig für die ikarisch-
herakleische Entgegensetzung ist die Konstruktion des Rollengedichts; denn das
„Du“ oder „Sie“ erhebt sich nur dank der Phantasie eines sprechenden lyrischen
Ichs in die Lüfte. Dank des Rollenspiels durchdringen sich Ich, Du und Sie (Wir).
Das macht die dioskurische Wechselvollendung von geistigem Ich und heldischem
Du in der letzten Strophe der Ode ‘An Eduard’ I und II, VV. 37-40 deutlich; und