Page 21 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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H ölderlins messianische Mythogenese 19
Und noch ein dritter Aspekt jüdischer Erwartung durchwirkt neben der
„königlichen“ und der „knechtischen“ Messiaskontur Hölderlins späten Versuch,
ganze Gruppen von Prototypen für den Retter oder „Genius“ der Deutschen zu
finden: das kollektive Element des „Menschensohnes“ bei Daniel (Da 7, 13), der
stellvertretend steht für das „Volk der Heiligen des Höchsten“ (7, 27). Ausge
rechnet im Moment der säkularisierenden Auszehrung des Christlichen, da der
Dichter christliche Ideen und theologische Begriffe seinem Synkretismus unter
wirft, gewinnt der messianische Gehalt dieses Denkens seine ursprüngliche, seine
jüdische Kontur zurück. Dies geschieht gleichsam, als ob die Substanz religiöser
Ideen kurz vor der synkretistischen Auflösung noch einmal in allen Farben ihrer
ursprünglichen Gestalt wetterleuchten würde!
Auch in den beiden anderen großen Christus-Hymnen (‘Der Einzige’;
‘Patmos’), in der Stromhymne ‘Der Ister’ und im Hymnenfragment ‘Wenn aber
die Himmlischen...’ mythisiert Hölderlin den „Reiniger Herkules“ zum Befreier
Herakles, der beide Aspekte der Synthese auf sich vereinigt: Dulderrolle und Tat
vermögen. Viele Anspielungen auf den „Arbeiter“, „Reiniger“ und „Retter“ (z. B.
das Jugendgedicht ‘Alexanders Rede an seine Soldaten bei Issus’) oder apokryphe
Belege ergänzen Hölderlins messianischen Entwurf des herakleischen Heros.23
Wie aber verhält sich die judäochristliche Messiasgestalt zum spekulativ idea
lisierten Heros aus der griechischen Mythologie? Die messianische Tradition des
Judentums hat zwei Stränge, wie später noch systematisch auszuführen sein wird.
Die Messiasvorstellung aus dem Präexistenzdenken des hellenisierten Judentums
(z. B. Daniel, Philo von Alexandrien) ist für Hölderlin besonders bedeutend.
Dieser Vorstellung zufolge ist der Messias der „Erstgeborene“ Gottes, das heißt
Teil der ursprünglichen Weisheit Gottes, Strahl vom „Glanz“ und „Licht“ der
göttlichen „Herrlichkeit“ oder - hebräisch ausgedrückt - der rüach („Geist“ oder
„Pneuma“), die noch vor dem ersten Schöpfungsakt Gottes existierte und über
allen Wassern schwebte. Johannes und Paulus knüpften mit ihrer Logoslehre, mit
Pneumatik und Herrlichkeitstheologie an diese jüdisch-alttestamentliche Tradi
tion an und modifizierten sie von grundauf. Diese Filiation rüach, pneuma und
logos rührt an diejenigen Urfesten, die Judentum und Christentum unauflöslich
miteinander verschränken: die Sprachgestalt des Schöpfungsgeistes und die
Geistigkeit des Offenbarungswortes.
Die semitische Logoslehre ist dabei fundamental zu trennen von der
platonisch-stoischen. Philo von Alexandrien hat den „semitischen Logos“
(Klausner 1950: 188) hellenisiert, das heißt, im Bildungs- und Rezeptionskontext
von Platonismus und Stoa mit griechischen Elementen angereichert. In ihrem
Wesenskern jedoch ist diese Lehre von der Präexistenz einer Geistinstanz, aus der
auch Gott selbst schöpft, der „Spruch“ oder das „Wort“ Gottes, originär
23 Vgl. „Hercules“ im ‘Phaeton’-Segment in Waiblingers biographischem Hölderlin-Roman -
Schreibweise folgt FHA.