Page 171 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Das göttliche „Kleeblatt 169
Geistprinzip: Tatprinzip:
lyrisches Ich ( „Ikarus“) Dionysos („Kultivierer“)
Christus („Pneumatiker“) Herakles („Arbeiter“)
Die Komplementarität der beiden einzelnen Brüder eines jeden Paars bleibt auch
zueinander bestehen: Der „Ikarus“ (das lyrische Ich) ist „kühn“ wie sein Bruder
Herakles; die „Herrlichkeit“ und das „Königtum“ des Dionysos sind umgekehrt
auch ein Merkmal des Auferstandenen. Im Götterpersonal der Hymne vertritt
Apollo die ikarische Facette, in der das lyrische Ich sich gleichsam in die mythi
sche Szenerie hineinspiegelt.162 Der Zweiteilung der irdischen Heroensphäre
entspricht symmetrisch eine Teilung des Olymps: einerseits in einen apollinischen
Geist- und Lichtbereich, auf den die ikarische, und andererseits in eine jovistische
Tat- und Machtsphäre, auf den die herakleische Haltung bezogen bleibt. Das lyri
sche Ich halluziniert eine fiktive Reise in die apollinischen Gefilde und
identifiziert sich mit diesem Bereich:
Denn wie in himmlische
Gefangenschaft verkauft
Dort bin ich, wo Apollo ging,
In Königsgestalt [...] (‘ Der Einzige’ I, VV. 5- 8)
Hölderlin überblendet hier die Vorstellung einer magischen Flugreise mit dem
Topos von der ,,himmlische[n] Gefangenschaft“ und zieht damit eine weitere
Paulusparallele.
Der Apostel spricht von sich als der „Gefangene Christi Jesu“, also als
captivus dei (vgl. Phlm 1 und 9 bzw. DKV I: 940, Komm. z. St. 344, 5f.). Damit ist
das lyrische Ich als ganymedischer Götteserwählter im Sinne der mythischen
Geschichten Ganymed oder Tantalos emporgehoben. Zugleich ist es aber auch
von messianischer Demut gebeugt. Es sieht sich als „ganymedischer“
Geistreisender und „paulinisch“ Himmelfahrender zugleich.
Diese synkretistische Aufstiegsfigur folgt in beiden Bereichen einer subtilen
Dialektik: im mythischen Bereich der großen Götterlieblinge lockt und lauert
beides: ganymedische Auserwählung und tantalische Hybrisqualen. Im
christlichen Bereich erscheint jede befreiende ekstasis oder elevatio des großen
einzelnen immer auch als eine Befangenheit von Gott. Die Verheißung der
himmlischen Weiten für den Berufenen hallt stets nach von der Enge des
162 Ich interpretiere diese Verse ungeachtet des editorischen Streits um die zusätzlichen Verse
des „Wanhäuser Fragments“, die eine weitere Fassung der Hymne nahelegen (vgl. Schmidt
1990: 146-155; 156ff. und Franz 1982: 251-331). Für meine Deutung ist allein die symmetri
sche Mythenkonstellation entscheidend, die auch bei einer erweiterten Lesart erhalten
bleibt.