Page 172 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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170             IV.  K apitel: Ikarus,  C h ristus und Johannes


          Spielraums  im  irdischen  Heilsplan.  „Nähe“  des  Großen  bedeutet  immer  auch
          „Enge“  des Kleinen,  Bedingten,  Beschränkten.  Und diese Dialektik von  herrlichr
          „Nähe“  und  mühseliger  „Enge“  verleiht  dem  Erwählten  ein  „himmlisches“
          Hochgefühl und macht ihm zugleich angst vor göttlicher „Gefangenschaft“.
              Aber  zurück  zum  Verhältnis  von  Oben  und  Unten  innerhalb  der
          mythischen  Szenerie  der  Hymne.  Die  zitierten  Verse  über  den  apollinischen
          Lichtbereich  kontrastieren  mit  dem  jovistischen  Einflußbereich,  der  eine  Wiege
          der Heroen unter den Menschen ist:

                        Und zu unschuldigen Jünglingen sich
                        Herabließ Zevs und Söhn’ in heiliger Art
                        Und Töchter zeugte
                        Der Hohe unter den Menschen, (ebd. VV. 9-12)
          Daß die apollinische Sphäre von Licht,  Sonne und Geist  den Fluchtpunkt für die
          ikariscbe  Begierde der Geistmenschen,  also  als ein himmlisch-göttliches Analogon
          für ein  irdisches Potential  des Geistes  darstellt,  macht  ein Monolog aus dem Aias
          des Sophokles anschaulich,  in dem der Titelheld eine  solche  symmetrische Topo­
          graphie  entwirft,  die  in  der  mythischen  Struktur  des  Götterhimmels  die
          treibenden  Kräfte  unter  den  Menschen  spiegelt.  Hölderlins  Übersetzung  pola­
          risiert  dabei  zusätzlich.  Himmlische  Geist-  und  Lichtgestalten  wie  „Apoll“
          kontrastieren Gesetzes- und Kriegsgottheiten wie  „Zevs“  und „Ares“  oder Götter
          des Rausches wie „Io“  (Bacchus, Dionysos) und „Pan“, womit eine dritte „dionysi­
          sche“ Sphäre neben der jovistischen und der apollinischen  anklingt. Das Chorlied
          aus  dem  ‘Ajax’  (Hölderlins  Schreibweise)  evoziert  die  Sphäre  der  „Ikarischen
          Wasser“,  über denen  die  Sonne  „Apollons“  aufgeht  (V.  10f.),  als  komplementäre
          Geistmythe für den Tathelden Aias, der geschlagen von „göttlichem Wahnsinn“ in
          einem  gewalttätigen  Amoklauf  scheitert.  Ähnlich  wie  das  lyrische  Ich  in  ‘Der
          Einzige’, ruft hier der Chor die Götter wechselseitig als Zeichen gott-menschlicher
          Alleinheit an (Hervorhebungen R. C.):
                        Ich bebe vor Liebe, ringsum gutes, geh ich auf.
                        Io! Io! Pan. Pan.
                         O Pan! Pan! von Wellen gegriffen auf
                        Kyllene, auf dem schneeumflognen
                         Felsfesten Hügel erschein o du                   5
                         Der eingesetzten Götter König! versammelnder!
                         Daß du mir Nysische Knossische Sprünge selbstgelernte
                         Mitwohnend zusammenfügest.
                         Nun nämlich trag’ ich Sorge zu tanzen.
                         Und du der aufgeht über den Ikarischen Wassern   10
                         König Apollon
                         Delischer gutbekannt,
                         Sei mit mir allzeit günstig.
                         (KHA II: 780f.)
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