Page 173 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Das göttliche „Kleeblatt                 171


       Vor dem Hintergrund des mythischen Götterkosmos, der dem antiken Schicksals­
       begriff  des  Tragischen  verhaftet  ist,  beginnt  die  implizierte  Ikarusfigur  in
       Hölderlins eigenwilliger Übersetzung zu schillern.  Denn in der Verarbeitung und
       Übersetzung der tragischen Mythen spricht Hölderlin stets mit messianischen Re­
       sonanzen.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  um  auf  die  Details  von  Hölderlins
       übersetzerischen  Idiosynkrasien  und  Irrtümer  näher  einzugehen  (vgl.  Seifert
       1982).
           Die tragische  Hybris  des Ikarus verweist  den  jungen  Helden  in  den  Bereich
       des  antiken  Schicksalsdenkens;  die  christlich  typologische  Aufladung  dagegen  in
       die  Nähe  messianischer  Denkfiguren.  Damit  verkörpert  das  Mythologem  des
       Ikarischen    bei   Hölderlin   ein   Übergangsphänomen   zwischen   antikem
       Schicksalsbegriff  und  christlicher  Typologie.  Die  ikarische Denkfigur  und  ihre

       Bildlichkeit  erhält  eine  Schlüsselfunktion  für  die  messianische  Überwindung  des
       Tragischen.  Das  gilt  übrigens  auch  in einzigartiger Weise für  die Heraklesgestalt,
       die ebenfalls in ihren tragischen  (Euripides,  Seneca)  und soteriologischen Facetten
       schimmert  (zu  Herakles/Christus-Parallelen  vgl.  Pfister  1937:  42-60  bzw.  LThK
       14, 559-583).

               1.2  Die späten Pflanzenmetaphem als synkretistische Naturchiffren

       In Ausdrücken wie „häng ich an dir“  (‘Der Einzige’, V. 50)  ist eine weitere impli­
       zite Metaphorik  angelegt:  dieselbe,  die  in  der Großstruktur des „Kleeblatts“  zum
       Ausdruck kommt,  als das die drei bzw. vier Götter,  Helden und Künder in  ihrer
       Einheit  „selbviert“  bezeichnet  werden.  Diese  pflanzliche  Filiationsmetaphorik
       zeugt  von  der  Suche  nach  Naturchiffren,  wie  sie  im  proteischen  Übergang  zur

       dionysischen Phase  immer  häufiger  werden.  Beere,  Korn,  Traube,  Efeu  oder
       Lorbeer -  aber auch  unbeseelte Naturbilder wie Kristall  oder Korall  sind auf der
       Dingebene,  was  die deutschen  Fürstennamen  auf der personalen  Ebene  repräsen­
        tieren:  der  Stoff  für  eine  hesperische  Mythologie.  Zwar  sind  längst  nicht  alle
        Bilder der nordischen  Flora entnommen  (wie  „Wald“,  „Forst“,  „Baum“,  „Beere“,
        „Blume“,  „Korn“  und  „Holunder“),  sondern  entstammen  vor  allem  auch
        südlichen Breiten  (z. B.  „Lorbeer“,  „Korall“ oder „Öl“). Aber Naturbilder, die das
        Orient  und Okzident verbinden  („Efeu“,  „Traube“,  „Wein“),  sind  Chiffren  einer
        universellen  Mythologie,  die  Hellas  und  Hesperien  im  Blick  auf  ein  Drittes
        vereint:  die  allumschließende  Mutter  Natur  als  großen  Seinsgrund.  Das  macht
        verständlich, daß Hölderlin seine späten Griechenlandszenarien  (‘Griechenland’ I-
        m)  mit  hesperischen  Naturbildern  ausstaffiert  (z. B.  die  „Gärten  um  Windsor“
        [ebd.] oder die „Kirschenbäume“, FHA Suppl. III:  101f.)
            Hölderlin  ersetzt  sein  mythisches  Personal   durch  ein  natürliches
        Mythermrreal. Hölderlin vertieft durch diesen letzten Schritt seiner messianischen
        Mythogenese die Identität von Element und Gottheit, indem er die naturalisierten
        Gottheiten  als  vergötterte  Natur  an  die  Stelle  der  historischen  Fürsten-  oder
        Königsgestalten setzt (vgl. dazu Seznec 1990:  13-30).
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