Page 174 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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172 IV. K apitel: Ikarus, C hristus und Johannes
Die gesamte doldenartige Naturmetaphorik in den späten Hymnen und
Fragmenten ist nur so zu verstehen: als Naturierung oder natürliche Mythisierung
des synkretistischen Gotteskonzepts. Denn wie Dolde, Traube oder Efeuzweige,
verästelt wie Korall und gestaffelt wie die „Röhren von Holz“ einer Panflöte oder
die Pfeifen einer Orgel „hängen“ die großen Entdecker, Fürsten, Helden und Göt
ter alle miteinander zusammen (vgl. auch das Gleichnis vom „Weinstock“ in
‘Patmos’ I, VV. 8Iff. und das Wort „hängen“ in ‘Heidelberg’, V. 21). Sie sind
gleichsam gebündelt zu Vertretern des „Einzigen“ und Allvaters.
Diese Doldenstruktur von Hölderlins hesperischer Heraldik basiert auf
harmonischer Entgegensetzung. Schon im Hyperion hatte sich Hölderlin gerne der
Pflanzenmetaphorik bedient, wie eine unscheinbare Stelle über die „Lilie“
beweist: die Lilie ist mit dem Kleeblatt motivisch verwandt, auch sie verkörpert
die Einheit einer Dreiheit und ist vor allem in der Marienverehrung zum Symbol
der Heiligen Dreifaltigkeit geworden (vgl. ‘An die Madonna’, V. 19): „Wie in
schweigender Luft sich eine Lilie wiegt, so regte sich in seinem Elemente, in den
entzückenden Träumen von ihr, mein Wesen.“ (KHA II: 31, ZZ. 24-26) Edgar
Löhner hat am Beispiel der Lilie beschrieben, wie Hölderlin an diesem Bild den
Übergang von der konventionellen Metaphorik zur hermetischen Chiffrensprache
der Moderne vollzieht. Löhner bezieht sich auf die letzten beiden Verse der Ode
‘Der Abschied’ II: „Und die Lilie duftet / Golden über dem Bach uns auf“, in der
ein freier Dativ das Verb „blühen“ in so ungewöhnlicher Weise semantisch
verselbständigt.163 Dabei verbinden sich heteronomistische Erlösungsmetaphorik
(„goldenes Zeitalter“, Heilssymbol der „Lilie“) mit einem autonomen (oder
„hermetischen“) Sprachgestus („jemandem aufblühen“):
Vielleicht einzigartig in der Dichtung Hölderlins begegnet uns hier ein Phänomen,
dessen Aufhellung zu dem Verständnis des gleichen Phänomens in der lyrischen Dich
tung der Gegenwart beiträgt. (Löhner 1986: 26)
Ein ähnliches Zugleich von gottgegebenem Sprachgehalt und (zunächst) unver
ständlicher Sprachgestalt konstituiert das biblische „Zungenreden“ (vgl. Apg 2, 1-
4). Dieser Transformationsprozeß erhellt die gesamte Doldenmetaphorik der
Spätzeit. Die verschiedenen Fassungen des Entwurfs ‘Griechenland’ durchwuchert
eine Fülle solcher Doldenbilder und Naturchiffren. Dem Kleeblatt in ‘Der
163 In der ersten Fassung der Ode lautete der Schlußvers: „Und befreiet, in Lüfte / Fliegt in
Flammen der Geist uns auf.“ (V. 35f.)