Page 22 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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20                            Einleitung


          semitisch.24  Sie  wird  den  Frühromantikern  über  die  Vermittlung  durch  das
          Johannes-Evangelium  und  eine  eigenwillige  Vereinnahmung  Spinozas  zur  Pro­
          jektionsfläche  für  ihre  Synthese-Sehnsucht:  „Spruch“,  „Wort“,  „Weisheit“  -
          „Logos“ werden von  Schleiermacher,  Schlegel, Novalis und Hölderlin mehr oder
          weniger  bewußt  zum  Urahn  von  „Liebe“,  „Poesie“  und  „Gemeingeist“
          umgedeutet  (vgl.  Ogden   1989:  420-460).  Seine  älteste  religions-  und
          literaturgeschichtliche Manifestation findet diese jüdisch-semitische Denkfigur des
          ursprünglichen  Spruches  im  ersten  Buch  des  „Buches  der  Bücher“:  der  Genesis.
          Das  „Es-werde-Licht“  Elohims  gilt  schon  Herder  als  Keim  des  trinitarischen
          Denkens im Monotheismus;  für Hölderlin sind die  drei Urwörter das  „summum
          der hohen Dichtkunst“ (KHA II: 466, Z. 24).
              Hölderlin  hat  sich  während  seiner  Studienzeit  am  Tübinger  Stift  und  vor
          allem  in  seinem  Magisterspecimen  „Parallele  zwischen  Salomons  Sprüchwörtern
          und  Hesiods  Werken  und  Tagen“  (1790)  eingehend  mit  diesem  Teil  des  Alten
          Testaments  beschäftigt.  Besonders  inspiriert  haben  ihn  dabei  drei  Schriften
          Herders:  Der  Genesiskommentar  Älteste  Urkunde  des Menschengeschlechts (1774-

          1776);  die Briefe, das Studium der  Theologie betreffend (1785)  und die Abhandlung


          Vom  Geist der Ebräischen Poesie (1783),  die  neben  kraftvollen  Übersetzungen  aus
          dem Alten Testament auch ein Plädoyer für die Ursprünglichkeit der „ebräischen“
          und orientalischen  Literatur enthält.  Herder schuf mit  seiner Schrift die Anfänge
          einer  „modernen“  Bibelexegese  (vgl.  Jacobs  1989:  93-112;  1991:  38-41),  die  die
          Stoffe  und Figuren  der Heiligen  Schrift  nicht  nur unmittelbar  als  Offenbarungs­
          wort  liest,  sondern  ebenso  als  Ausdruck  der  mythischen  Einbildungskraft  eines
          bedeutenden Volkes und seines literarischen Gestaltungsvermögens.
              Nur vor dieser Aufwertung der hebräischen „Urpoesie“,  die noch hinter  den
          Griechen  zu  erschließen  sei,  werden  Hölderlins  späte  Erneuerungskonzepte  für
          die  hesperische  Dichtung  deutlich.  Das  führt  unmittelbar  auf  das  Element  des
          ,,Prophetische[n]  der  Messiade“  und  „einiger  Vaterländischer  Gesänge“,  das  er in
          einem  Brief  an  den  Verleger  Wilmans  als  Fluchtpunkt  einer  gründlichen
          Umorientierung der abendländischen Dichtung anvisiert (vgl. KHA III: 470f.).
              Die Parallelisierung von griechischer und hebräischer Dichtkunst erweist sich
          daher  als  ein  Strukturphänomen,  das  Hölderlins  messianische  Mythogenese  auf
          der  analytischen  Ebene  philologisch  unterfüttert.  Man  könnte  auch  sagen:  die
          Überwindung  der  antiken  Vorstellungen  von  Mythik  und  Tragik  wird  aus  der
          Exegese  der  griechischen  und  orientalischen  Klassik  geboren.  Die  innovative
          Philologie  (Mythenrezeption  und Übersetzung  im  Kräftefeld von  Rationalismus,
          Dogmatik und historischer Theologie)  ist  der Schoß  für  die Denkfiguren,  Struk­
          turen und Bilder,  mit  denen Hölderlin das Tragische  messianisch  überwindet.  In



           24  Joseph Klausner definiert  den „Spruch“, den  „Logos“, das  „Wort“  oder die  „Weisheit“  als
              den  „Erstgeborenen der  Gottheit“,  einen  „zweit[en]  Gott“  als  Hypostase  eines  ersten  ab­
              strakten  Gottes.  Klausner  faßt  diese  Denkfigur  als  jüdischen  Begriff,  „dem  Philo  [von
              Alexandrien] eine heraklitisch-platonische Färbung verleiht.“ (Klausner 1950: 187f.)
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