Page 175 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Synkretistische Naturchiffren              173


       Einzige’  entspricht  die  triadische  Struktur  der  „Lilie“,  wie  sie  Hölderlin  in  der
       Diotima-Ode ‘Der Abschied’  oder im Hymnenentwurf ‘An die Madonna’  gestal­
       tet.

                  1.3  Gottes  „ Viereinigkeit“ in Pietismus und Pantheismus

       Die merkwürdige  „Viereinigkeit“  von  Hölderlins  Gotteskonzept,  die  sich  in  der
       implizit  ikarischen Mythisierung in  ‘Der Einzige’ verbirgt,  die Hölderlin  aber nie

       ausdrücklich formuliert,  gewinnt angesichts der mystischen Moden zum Ende des
       18. Jahrhunderts  an  Plausibilität.  Im  Umkreis  pietistisch  erzogener  junger  Intel­
       lektueller,  wie  z. B.  bei  Karl  Philipp  Moritz  (1756-1793),  gab  es  verwandte
       mystische Spielereien mit der Frage der monotheistischen oder trinitarischen Ein­
       heit Gottes. Das hat eine lange Tradition in der Geschichte der Religionen:  so gab
       es  in  Judentum  und  Christentum  immer  wieder  mystische  Richtungen,  die  die
       Einheit  Gottes  in  Frage  stellten.  Die  mystische  Interpretation  der  teilweise  apo­
       kryphen  Weisheitslehren  des  Alten  Testaments,  aber  auch  freizügige  Deutungen
       gnostischen  Gedankenguts und  (neu)platonische Spekulationen waren  meist  Aus­
       gangspunkt  für  diese  Ansätze.  Im  18.  Jahrhundert  erlebten  diese  Gedanken  eine
       erneute  Konjunktur.  Das  Ungenügen  an  den  Systemen  der  Leibniz-Wolffschen
       Philosophie,  aber auch die Frustration der spekulativen  Gemüter nach ihrer je ei­
       genen Kantkrise oder die Enttäuschung an der „Objektlosigkeit“ Fichtes verführte
       die  Geister  im  Brennpunkt  von  Theologie,  Ästhetik  und Literatur  dazu,  an  sol­
       chen Spekulationen teilzuhaben.
           Einen Katalysator für diesen spekulativen  Appetit  auf Einheitskonzeptionen
       im Geiste von  Gnosis,  Mystik,  Pantheismus  und Pietismus  bildete  das Johannes-
       Evangelium,  wie  schon  gezeigt wurde (siehe Kapitel II. 1). Daß auch Hölderlin an
       dieser  Synthese-Sehnsucht  und  am  generellen  Positivitätszweifel  seiner  Epoche
       teilhatte,  belegt  eine  Passage  aus einem Brief an  Isaak  von  Sinclair von  1798,  die
       seine Skepsis gegenüber der „apriorischen Philosophie“ von Leibniz bis Wolff,  ge­
       genüber  der  „tyrannischen“  Objektlosigkeit  Fichtes  und  der  positiven
       Offenbarung  der  Supranaturalisten  dokumentiert.  Interessant  ist  in  diesem  Zu­
       sammenhang,  wie  sich  aus  der Negation  der  philosophischen  und  theologischen
       Positivität zwangsläufig die Denkfigur der „reinen Positivität“ ergibt:  der Wunsch
       nach  einem  naturhaften  Urgrund,  einem  Sein  vor  aller  „Ur-Teilung“  durch  das
       Bewußtsein.  Diesem  Konstrukt  reiner  Positivität  verleiht  Hölderlin  eine  Fülle
       von terminologischen Einkleidungen wie  „Grund“,  „Seyn“,  „Natur“  und „Geist“.
       Diese  Begriffe  erhalten  wiederum  mythische  Gestalt  in  Vorstellungen  wie
       „Frieden(sgeist“), „Saturn[isches] Zeitalter“, „(Gemein)Geist“, „Reich Gottes“  oder
       „Göttertag“.  Mit  diesem  Zustand  der  Wiederholung  des  ungeschiedenen  Ur­
       sprungs  in  der  utopischen  Synthesevorstellung  ist  stets  die  Vorstellung  der
       anarche, der Herrschaftslosigkeit und der Relativierung aller despotischen,  monar­

       chischen und tyrannischen Oberhoheit verbunden:
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