Page 177 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Gottes „ Viereinigkeit 175
Seine Predigt aber steht unter einem unglücklichen Vorzeichen: Hartknopf hat
versehentlich die gedrechselte Taube aus der hölzernen Dachverzierung der Kan
zel gebrochen, worauf das hehre Symbol des Johanneischen Geistes schallend
unter die Kirchenbänke kollert:
Er hub nun seinen Spruch an: im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott,
-
und Gott w ar das Wort. Also: im Anfang war das Wort, und das Wort war selbst der
Anfang. [...] Er selbst stellte das nackte Wort, als den leeren Hauch der Luft, als das
tönende Erze und die klingende Schelle dar, wenn Liebe es nicht beseelet. - Liebe be
seelte es aber, indem er sprach - denn er war gewilliget zu geben, wo seine Brüder
nehmen; er wollte nicht für leeren Lufthauch den Zehnten von allen reichhaltigen
Früch[t]en [sic] der Erde eintauschen - er wollte den Buchstaben des Worts erst
tödten, damit der Geist lebendig mache. (Moritz 1968 [1790]: 172f. - Hervorhebungen
original)
Moritz verdichtet in der verschrobenen Viereinigkeitslehre seines Helden
Hartknopf die mystische Vermittlung zwischen christlicher Rechtgläubigkeit,
volkstümlicher Frömmigkeit und mystischer Geborgenheitssehnsucht, wie sie
Mark R. Ogden für Hölderlin nachgewiesen hat. Der Geist, das pneumatische
Wort des Johannesevangeliums, dient dabei als Vehikel. Im Falle des bäuerlichen
Landchristentums, das Hartknopf begründen will, ist dieses Wort die volkstüm
liche Entsprechung von philosophischen Konstrukten für die präreflexive Instanz,
die Wiege des Seins und des Denkens, die „Quelle“ oder der „Brunnen“, wie
Hölderlin es mit dem Psalmisten in seinem Magisterspecimen pointiert hat. Denn
das Wort der Lutherbibel mit seiner drastischen Bildlichkeit, seinen vielen Ent
lehnungen aus Handwerk und Landleben und seiner Beflügelung der All
tagssprache durch so viele Redewendungen ist das „Vierte“, das Ursprüngliche
und Naturhafte, das Hartknopf hier vorschwebt. Diese Wortmystik versinnlicht
sein Motto: „Der Buchstabe tödtet, aber der Geist macht lebendig“.165
Inwieweit auch Hölderlin solche Gedanken hegte, wenn auch auf abstrakte,
keineswegs so plastisch ironisierte Weise wie Moritz, zeigt ein wichtiges
Briefzeugnis, das die „Buchstabengläubigkeit“ der „Theologen von Profession“
und der „Pharisäer“ seiner Zeit anprangert:
Aber die Schriftgelehrten und Pharisäser unserer Zeit, die aus der heiligen lieben Bibel
ein kaltes, geist- und herztötendes Geschwätz machen, die mag ich freilich nicht zu
Zeugen meines innigen, lebendigen Glaubens haben. [...] N ur mag ich mich und mein
Herz nicht da bloß geben, wo es mißverstanden wird, und schweige deswegen vor den
Theologen von Profession [...] eben so gerne, wie vor denen, die gar nichts von all dem
wissen wollen, weil man ihnen von Jugend auf durch den toten Buchstaben und durch
das schröckende Gebot, zu glauben, alle Religion, die doch das erste und letzte Be
dürfnis der Menschen ist, verleidet hat. [...] Übrigens ist es mir lieb, wenn es [die
165 Moritz 1968 [1790]: 1. Vgl. Hölderlins elegische Distichen unter dem Titel ‘Sophokles’:
„Fürchtet den Dichter nicht, wen[n] er edel zürnet, / sein / (der) Buchstab / Tödtet,
(e)aber es macht Geister lebendig der Geist.“ (FHA Suppl. III: 130, ZZ. 10-13).