Page 178 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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176             IV.  Kapitel:  Ikarus,  C hristus und Johannes


              Pfarrstelle  auf dem  Dorfe,  R.  C.]  noch  einige Jahre  ansteht,  und  wenn  ich  hier  mit
              dem Buche, an dem ich schreibe und mit meinem Gelde zu Ende bin, so will ich eben
              wieder Hofmeister werden.  (KHA HI: 336, ZZ. 32-36; 337, 4-13; 339, 37- 340, 3.)
          Diese Briefstelle klingt  in  Tonfall  und Wortwahl  fast  wie  ein  (fiktiver)  Brief von
          Andreas  Hartknopf.  Die  Rückkehr zu  ländlichen  Formen  christlicher Praxis,  zu
          pädagogischer  und  seelsorgerischer  Menschennähe  sowie  mystischer  Linderung
          von  Entfremdungsgefühlen,  die  ein  zu  rigides  Aufklärungsethos  hervorbrachte,
          sind  ein Wunschdenken,  das  eindeutig  im  Umkreis  des  pietistischen  Erziehungs­
          und  Gemeindewesens  lokalisiert  werden  kann.  Gerhard  Schäfer  hat  Hölderlins
          pietistische  Prägung in  seiner Nürtinger Zeit  ausführlich  beschrieben.  Vermittler
          und  Anreger  „philanthropischer,  moralisierender  und  allegorisierender  Ge­
          spräche“  anläßlich  des  „Nürtinger  Maientags“  waren  dabei  der  Repentent Jakob
          Friedrich  Klemm  (1733-1793)  und  Philipp  Matthäus  Hahn  (1739-1790),  vgl.
          Schäfer 1991: 65f.
              Wie  weit  Hölderlins  Denken  mit  spekulativen Ideen verflochten  ist,  die  auf
          dem  Grund  pietistischer  Intellektualität  und  Bildung  gewachsen  sind  -  und  sich

          zum  Teil  auch  bewußt  gegen Biedersinn  und  Gleisnerei  der  Pietisten  selbst  rich­
          teten  -  zeigt  die  Übereinstimmung  der  Motivik  in  seinen  Briefen  mit  der
          Bildlichkeit von Moritz’  Hartknopf-Roman.  Wenn Hartknopf immer wieder das
          Dickicht von  „Disteln“  und „Dornen“  (Moritz  1968  [1790]:  151)  beklagt,  das sich
          ihm  in  Gestalt  verlogener  Pädagogen,  Aufklärer  und  Denunzianten  darbietet;
          wenn  er seine Rolle  als  Elias-Nachfolger stets  in  eine  Landschaft  widrig-profaner
          Naturbilder  versetzt  und  der  Messias  vom  Lande  sich  wie  ein  „Diamant“  unter
          „Kieselsteinen“  (Moritz  1968  [1790]:  4)  fühlt,  -  dann  evoziert  dies  eine  ähnliche
          Selbstbeschreibung Hölderlins:
              Es sollte mir so gut bekommen,  einmal wieder Nahrung  für mein Inneres  zu finden.
              Hier  zu  Land  ist  der  Boden  nicht  gerade  schlimm,  aber  er  ist  ungepflügt,  und  die
              Steinhaufen,  die  ihn drücken, hindern  auch den Einfluß  des Himmels, und so wandl’
              ich meist unter Disteln oder Gänseblumen.  (KHA III: 207, ZZ. 6-11)

          Auch  der  messianische  Anspruch  des  theologisch,  ästhetisch  und  poetisch  inspi­

          rierten Intellektuellen, einmal verkörpert in der ikarischen Instanz von Hölderlins
          Hymne,  zum  anderen  in  Moritz’  Landprediger,  läßt  sich  durchaus  vergleichen.
          Die implizierte Ikarusfigur in ‘Der Einzige’ personifiziert  auf der Ebene einer ho­
          hen  Hymnik  mit  prophetischem  Anspruch,  was der Pseudo-Elias  Hartknopf auf
          der profanen  und komischen Ebene volkstümlicher Literatur versinnlicht.  Bei  al­
          ler  Komik  und  Ironie  der  Messiasfigur  bei  Moritz:  Sie  ist  in  einem  ähnlichen
          Sinne ernst gemeint wie bei Hölderlin.  Und umgekehrt  gibt  es bei Hölderlin aus­
          gerechnet  im  Zusammenhang  mit  der  ikarischen Mythisierung des  messianischen

          Anspruchs Anzeichen für Ironie,  zu der die Affinität  der Flugmetaphorik zur Se­
          mantik  von  Sturz  und  Scheitern  geradezu  einlädt.  Auch  der  markante
          Gänsevergleich  Hölderlins,  der  seinen  naiven  Klassizismus  und  Philhellenismus
          verabschiedet,  taucht  die Flugvorstellung in  ähnlicher  Weise  ins Burleske,  ja Ab­
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