Page 179 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Gottes „ Viereinigkeit 177
surde (man denke nur an das Bild des Poeten als flugunfähiger Albatros bei
Baudelaire):
O Griechenland, mit deiner Genialität und deiner Frömmigkeit, wo bist du hinge
kommen? Auch ich mit allem guten Willen, tappe mit meinem Tun und Denken
diesen einzigen Menschen in der Welt nur nach und bin in dem, was ich treibe und
sage, oft mir um so ungeschickter und ungereimter, weil ich, wie die Gänse mit plat
ten Füßen im modernen Wasser stehe, und unmächtig zum griechischen Himmel
emporflügle. (KHA: III, 334, ZZ. 6-13).
Diese Beispiele für ikarische Ironie sind umso bedeutsamer, als die Spuren von
Witz oder Ironie bei Hölderlin ansonsten durch sein strenges Pathos so gut wie
überall verweht sind.
Und noch einmal die andere Seite: Andreas Hartknopf meint den Gipfel sei
ner ketzerischen Naturmystik und Viereinigkeitslehre wiederum in einem zwar
profanen, aber aufrichtigen Sinne ernst. So zelebriert er das Abendmahl mit Ret
tichscheiben in einer grandiosen Szene und führt die bauerngemäße
Sakralhandlung als geradezu innigen Reformvorschlag für ein erstarrtes Christen
tum im M u n d et
Insofern sind weder Moritz’ Säkularisierungen der biblischen Motivik (liest
man den Andreas Hartknopf als ein säkularisiertes Landprediger-Evangelium, vgl.
Schrimpf in Moritz 1968: 32*; 33*-35*) noch Hölderlins synkretistische Anver
wandlungen der griechischen Mythologie echte Säkularisierungen oder
„postfigurale Gestaltungen“, als die Albrecht Schöne diese Phänomene standar
disiert hat (vgl. Schöne ’ 1968: 268-301). Sie sind vielmehr „figurale Gestaltungen“
(ebd.) oder Resakralisierungen einer erschöpften, aufklärungsmüden Frömmigkeit
bei Moritz und einer entleerten Positivität der Christusgestalt bei Hölderlin. Was
Moritz alias Hartknopf mit Wortmystik, Rettichandacht und bauerngemäßer
Verkündigung wieder verlebendigen will: die erstarrte Positivität des Christen
tums, reichert Hölderlin mit expliziten und impliziten Mythen an, um es aus der
Verflüchtigung in Abstraktion und Geistigkeit zu retten ins Bildliche und pla
stisch Greifbare.
Das geht mit einer „Rehabilitierung des Buchstabens“ einher, wie Walther
Killy brillant gezeigt hat, und zwar ausgehend von Hölderlins berühmter Sentenz
am Ende der Patmoshymne (I, VV. 222-226), daß nämlich „Bestehendes“ „gut ge
deutet“ werde und „deutscher Gesang“ dem „festen Buchstaben“ zu „folgen“ habe
(vgl. Killy 1985: 70). Killy zeigt in seiner inspirierten Deutung der paulinischen
Antithese von „Geist“ und „Buchstaben“ (2 Kor 3, 6), daß die protestantische
Worteuphorie Luthers mit der historischen Bibelkritik der Aufklärung zunächst
in Verruf geraten war. Pietisten wie der Landgraf Friedrich Ludwig von Hessen-
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Homburg wünschten sich dagegen eine poetisch feierliche Rettung des biblischen 1
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166 Vgl. „Der heilige Rettich. Die Versinnlichung des Pneumatischen im ‘Andreas Hartknopf
von Karl Philipp Moritz“ (= Charlier 1997)