Page 180 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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178 IV. K apitel: Ikarus, C hristus und Johannes
Schriftwortes (Killy 1985: 68). Als Klopstock die briefliche Aufforderung des
Landgrafen mit Verweis auf sein Epos Der Meßias. Ein Heldengedicht (Bremen,
1748ff.) ablehnte, hat Hölderlin diesen Plan einer Aussöhnung zwischen buchstäb
lichem „Gesetz“ und geistigen „Evangelium“ mit der Widmung und der
Komposition von ‘Patinos’ vermutlich aufgegriffen (vgl. Killy 1985: 63ff.;
Schmidt 1990: 185ff.; 258ff.). Hölderlin restituiert in den Schlußversen der
Hymne die Poesie als „neue“ Sprache des „Geistes“, die den „alten“ „Buchstaben“
der Testamente deutend bewahrt. Damit überwindet Hölderlin die Vorstellung
von einem „todten“ Buchstaben durch seine künstlerisch-philologische Program
matik eines „vesten“, durchgeistigten Buchstabens der Poesie, der Kunst und
Offenbarung versöhnt. Hölderlin restituiert damit die positive Spannung von
„verba“ und „littera“ bei Luther, wie sie sich im lutherischen „Natura enim verbi
est audiri“ ausdrückt (Ubs.: „Die Natur des Wortes ist es nämlich [lebendig ver
kündigt, d. h.] gehört zu werden“, zit. n. Killy 1985: 68). Das zeigt auch das
Postulat einer neuen prophetischen „Sprache der Natur“ im Vorsatz zur
‘Friedensfeier’. Naturierung und Mythisierung des Christlichen sind also ver
wandte Verfahrensweisen des poetischen Geistes. Das wird vollends plausibel,
wenn man dem Erzählerkommentar von Hartknopfs Predigt über die
„Viereinigkeit“ folgt:
In dieser Predigt, pflegte Hartknopf, [sic] nachher oft zu sagen, habe er den ganzen
Druck empfunden, womit die grobe Sinnlichkeit auf dem zarten Gedanken, die un
förmliche Masse auf dem Gebildeten ruht - wodurch der Sprößling im Keime
zertreten, die Blume zerknickt wird - der Wurm an der aufblühenden Pflanze nagt -
der Heldenmuth des Starken in seiner Brust gehemmt wird, und der bildende Genius,
indem er die Flügel entfaltet, von seinem umwölkten Jahrhundert darnieder gedrückt,
in den Staub sinkt. (Moritz 1968 [1790]: 174)
Hier mündet die naturalisierende Pflanzenmetaphorik - der Messias unter
„Disteln“, „Dornen“ und „Gänseblumen“ - in die mythische Heroisierung der
Künder- und Mittlerfigur, sei sie nun Landprediger (Moritz) oder Hofmeister
(Hölderlin). Hölderlins ikarisch-herakleische Anlage von ‘Der Einzige’ findet im
Andreas Hartknopf ihr komisch-groteskes Seitenstück. Erinnert man die Verse 92-
94 von ‘Der Einzige’ I):
Denn wie der Meister
Gewandelt auf Erden, / /
Ein gefangener A ar [...]
- so schmiegt sich die Parallele zwischen hohem Hymnenton (Hölderlin) und
profaner Prosa (Moritz) problemlos in die Argumentation. Im Bild des königli
chen Vogels, der auf der Erde watschelt, vermeint man, wie schon erwähnt, die
Unbeholfenheit von Baudelaires „Albatros“ bereits schemenhaft zu erkennen. In
seinem gleichnamigen Gedicht hat Baudelaire den Großvogel zur Chiffre des mo
dernen dichterischen Selbstverständnisses erhoben. Übrigens verweist Karl
Pestalozzi in seinem Kapitel über den Erhebungstopos bei Schiller auf die vielen