Page 181 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Gottes „ Viereinigkeit" 179
zeitgenössischen Vergleiche des späten Hölderlin mit einem flugunfähigen Adler.
Auch er zieht dabei die Parallele zu Baudelaire (vgl. Pestalozzi 1970: 78, Anmer
kung Nr. 1). Man denke in diesem Zusammenhang auch an die Phaethon-
Mythisierung in Wilhelm Waiblingers Briefroman über Hölderlin (Phaeton/ von /
F. W. Waiblinger / Zwey Tbeile [...], Stuttgart 1823; vgl. auch die spätere Krank
heitsschilderung „Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn“,
1839/40). Johann Heinrich Voss griff übrigens ebenfalls zu einem hellsichtigen
Ikarus-Vergleich in seiner Rezension von Hölderlins Sophokles-Übersetzungen:
Rec. [= der Rezensent J. H. Voss, R. C.] war freylich schon lange überzeugt, daß man
dort oben, wenn man einmal da ist, Dinge zu sehen bekömmt, die man unten nicht
sieht; allein der Weg hinauf schien ihm immer so geheimnißvoll und gefährlich, wie
der Weg in die Hexenküche, den selbst Schakspeare [sic] nicht anzugeben weiß, oder
zu den Hyperboreern, zu denen man laut Pindar weder zu Fuße noch zu Schiffe
kommen kann. Wie Hr. H. [= Hölderlin, R. C.] hinaufgekommen ist, begreifen wir
so recht nicht. Ist er etwa nur von Ohngefähr hinaufgefallen, so bitten wir ihn
dringend, daß er ganz behutsam wieder zu uns übrigen herabsteige. Ist er aber mit
Bedacht oben, und fühlt er sich heimisch auf jener Höhe, dann freylich bescheiden
wir uns; und wollen nur ernstlich gewarnt haben, daß ihm ja keiner nachstrebe, gleich
dem „Ikaros / Vitreo daturus nomina ponto.“ (JALZ Nr. 255 vom 24.10.1804, zit. n.
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Auch in der Ikonographie der Geschichte von Dädalus und Ikarus gibt es eine
burleske Deutung der tragischen Episode. So fliegt auf einem frühneuzeitlichen
Holzschnitt ausgerechnet eine Gans [!] hinter dem schockierten Dädalus her, der
erkennen muß, wie sein Sohn tragikomisch verunglückt (siehe Abbildung Nr. 2
und Behringer u. a. 1991: 14).
Moritz treibt schließlich auch die heroische Metaphorik unerbittlich in die
grelle Groteske, wenn er Hartknopf zum verhinderten Herakles auf dem Dorfe
mythisiert:
Die Jahre seiner frühsten Jugend traten in ihrer Kraft und Blüthe vor seine Seele. Um
seine Schultern schlotterte die Löwenhaut - und auf die schwere Keule stützte sich
sein Arm. (Moritz 1968 [1790]: 283)
Auch die Flugmetaphorik des beflügelten Genius und des über allem schweben
den göttlichen Geistes ist bei Moritz komisch radikalisiert. Hartknopf, der Elias-
Genius, reißt nicht nur die Johanneische Holztaube aus ihrem künstlichen
Himmel. Ausgerechnet anläßlich des großen „Jubelfestes“ in der Ribbeckenauer
Kirche fällt ein goldener Engel vom Orgelgehäuse, worauf das „/Zdlelujah“ sich
zu einem tosenden „Ha-ha-ha!“ steigert. 1 7 6
167 Übs. (nach Ovid): „Ikarus wird seinen Namen dem glänzenden [Wortspiel mit:
‘gläsernem’, R. C.] Meer geben.“