Page 183 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Typologie der Johannesgestalt


            2.  Die Johannesgestalt zwischen jüdischem und christlichem Messianismus

              2.1  Vom „ Wachstum des Rettenden“: Typologie der Johannesgestalt

       Nachdem Hölderlin in der Elegie ‘Brot und Wein’ Christus als höchste und letzte
       Verkörperung  der  Antike  beschworen168  und  ihm  in  ‘Der  Einzige’  die  antiken
       Heroen  und Halbgötter zur Seite gestellt  hat,  wählt  er in  ‘Patmos’ Johannes  zur
       Zentralgestalt.  Allerdings beschreibt Hölderlin nicht etwa Leben und Wirken des
       Johannes.  Vielmehr  dient  ihm  die  markante  Figur  als  Spiegel  und  dichterisches
       Wunschbild.  Die  Johanneshymne  erweitert  damit  die  ikarische  Implikation  aus
       ‘Der Einzige’ im Motiv der imaginären Flugreise und spinnt sie zu einem großar­
       tigen Entwurf des dichterischen Selbstverständnisses aus: wie Johannes nimmt der
       Dichter  als  Schwellenfigur  zwischen  den  „Gipfel[n]  der  Zeit“  (V.  10),  zwischen
       Denkweisen und Epochen, eine wichtige Funktion ein.
           Die  Johannesgestalt  wird  dabei  in  drei  Rollen  entfaltet:  Der  letzte  Apoka-
       lyptiker der  jüdisch-christlichen  Tradition  beglaubigt  vor  der  paulinischen

       Pneumatisierung  des  Christentums  noch  einmal  die  apokalyptische  Naherwar­
       tung,  wie  sie Jesus  und  den  frühen  Christen  eigen  war.  J a  komme,  Herr Jesu!“
       (Offb  22,  20)  -  mit  diesem  Anruf  beendet  der  Verfasser  der  Offenbarung  seine
       Prophezeiungen,  und  eine  Stimme  befiehlt  ihm:  „Versiegle  nicht  die  Reden  der
       Weissagung dieses  Buches.  Die  Zeit  ist  nahe“  (Offb  22,  10).  Der Prophet  Daniel
       hatte sein Buch noch versiegeln müssen, weil die „kommende Welt“ nicht als der­
       art „nahe“ gedacht war (Da 12, 4). In seiner zweiten Rolle als Evangelist  entwickelt
       Johannes  die  Grundlagen  des  pneumatischen  Denkens,  indem  er  das  Leben  und
       die Lehre Jesu vergeistigt, seine Taten und Wunder nur kursorisch beschreibt und
       vor  allem  das  Geistige  seines  Wirkens  entfaltet.  Der  Christus  des  Johannes-


       evangeliuns  ist  nicht  nah und  diesseitig,  sondern  fern und  transzendent  (zur
       Epiphanie des Johannes  als Inbegriff von  griechischer Sprache und hellenistischer
       Schönheitsidee vgl. Link  1997: 43-52).
           Die dritte Rolle der Johannesgestalt ist die des politischen „Eiferers“ oder Ze­
       loten in der Person Johannes’ des Täufers, auf den Hölderlin in einer Erweiterung
       der  ersten  Fassung  anspielt  (-  ‘Patmos’  II). Johannes  der  Täufer  verkörpert  die
       politische  Brisanz  der  messianisch-apokalyptischen  Bewegungen  zur  Zeit  Jesu.
       Sein  Märtyrerschicksal  zeigt  (er  wurde  von  Herodes  enthauptet),  wie  gefährlich
       die messianisch-täuferischen  Sekten  den  Römern erschienen und wie  unerbittlich
       die tätigen Bestrebungen dieser Gruppen militärisch und machtpolitisch bekämpft
       wurden. Im hymnischen Fragment ‘...Der Vatikan...’  rückt Hölderlin die Täufer-
       gestalt  in  unmittelbare  Nähe  der  hesperischen  Kulturpioniere,  der  herakleischen
       Kultivierer und Begründer der mittelalterlichen Ordnung des Abendlandes:




        168  Vgl.  ‘Brot  und  Wein’,  W . 155f.:  „Aber  indessen  kommt  als  Fackelschwinger  des
           Höchsten /  Sohn, der Syrier, unter die Schatten herab.“
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