Page 184 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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182 IV. K apitel: Ikarus, C hristus und Johannes
Ach! kennet ihr den nicht mehr
Den Meister des Forsts, und den Jüngling in der Wüste, der von Honig
Und Heuschrecken sich nährt. (‘...Der Vatikan...’, VV. 18-20)169
Das Fragment vollzieht die ikarisch-herakleische Entgegensetzung in aller Konse
quenz: Den „Rittern“ des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (ebd.
V. 6) und den heroischen „Fürsten“ (ebd. V. 19) oder „Meistern des (hesperischen)
Forsts“ (‘Der Archipelagus’, V. 167) entsprechen „Mönch“ und „Schäfer“ (‘...Der
Vatikan...’ I, W . 39f.) in geistig-tätiger Komplementarität. Auch auf den
ikarischen Widerpart des Täufers, den Evangelisten, spielt Hölderlin in dem
Entwurf an („Der Kranich hält die Gestalt aufrecht / Die Majestätische, keusche,
drüben / In Patmos, Morea, in der Pestluft“, ebd. VV. 30-32). Auch wenn die
Bedeutung dieser Zeilen teilweise kryptisch bleibt, läßt sich doch zumindest die
Struktur der harmonischen Entgegensetzung durchgängig rekonstruieren und die
herakleische Nuance des Täufers extrapolieren. Inwieweit der politisch-
messianische Heroismus von Johannes dem Täufer dem theologischen Diskurs des
18. Jahrhunderts gegenwärtig war, zeigt sich bei Reimarus, der im Grunde das
gesamte Christentum als eine Art Wurmfortsatz der Läuferischen und zelotischen
Messianik der Juden zur Zeit Christi abtut. Auch Heinrich Corrodi erkannte
gerade in seiner polemischen Voreingenommenheit die politische Brisanz des
Reich-Gottes-Gedankens, wie er mit seiner Unterscheidung zwischen
„systematischen Fanatikern“ (bloßen Chiliasten des Geistes) und „praktischen
Chiliasten“ eindringlich macht (Corrodi 1794: III/1, 269). Mit Corrodi ist auch
dem zeitgenössischen Diskurs Hölderlins durchaus geläufig, daß der „praktische“
(politische und herakleische) Aktivismus konstitutiv für viele Richtungen des Chi-
liasmus gewesen ist. Damit gibt Corrodis antichiliastische Polemik ein
vollständigeres Bild des historischen Chiliasmus, für den der Täufer eine Art
Ahnherr darstellt, als der orthodoxe oder pietistische Blick auf die messianischen
Bewegungen. Feindschaft gegenüber einer Idee sensibiliert zusätzlich für deren
Brisanz und versteckte Potentiale. Im Gegensatz zur pietistischen
Beschwichtigung des Politischen und Pragmatischen, die im chiliastischen
Gedanken vibrieren, stellt Corrodi den „praktischen“ Chiliasmus gleichberechtigt
neben den „systematischen“.170 Er sieht sogar gerade in der Politizität des Chi
liasmus einen unerschütterlichen Beweis für dessen Abnormität und soziale
169 Vgl. Mt 3, 4 und Schmidt KHA I: 1085: „[...] seine [des Täufers, R. C.] Speise war
Heuschrecken und wilder Honig.“
170 „Der rohe praktische Fanatismus der so geheissenen Schwärmer gehört zur Geschichte des
Chiliasmus ganz wesentlich, wie sich in der Folge zeigen wird. Dann in soweit, und so oft
er in Praxin übergeht, bringt er Ausschweifungen von der Art hervor, dergleichen die prak
tischen Chiliasten, die das Reich Christi auf der Erde selbst aufzurichten suchten,
begiengen, Versuche, die Gestalt der Welt, und Kirche zu verändern, die Weltreiche abzu
schaffen, das Lehramt zu reformieren, die Gottlosen, und der Verbesserung unfähigen zu
vertilgen.“ (Corrodi 1794: III/l, 269)