Page 23 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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H ölderlins messianische Mythogenese 21
der komparatistischen Textanalyse schleift Hölderlin sein synthetisches
Vermögen; durch sie schult er seine Begabung, das einheitsstiftende Moment in
disparaten Traditionssträngen zu erkennen und sie auf eine gemeinsame Essenz zu
verdichten. Das geschieht immer um den Preis einer Reduktion, Verknappung, ja
sogar: Verstümmelung bestimmter Elemente der Gegensätze, die er in eins
schauen will. Lakonismen, „harte Fügungen“ (Norbert Hellingrath), hermetische
Chiffren und echte Irrtümer sind nur die Späne, wo ansonsten meisterhaft
gehobelt wird. Und sogar der Fehler hat eine mythisierende Tendenz, die das
Chaotische fixiert (vgl. Binder 1992: 60f.). Griechisch-deutsche Doppel
etymologien und messianische Verzerrungen tragischer Bilder schaffen eine
kentaurische Monstrosität25 der Sprache, die einmalig geblieben ist. In den
Trümmerhalden der späten Entwürfe nisten schließlich nur noch allegorische und
heraldische Bilder. Aus diesem aufgelassenen Steinbruch speisen sich später
einzelne Strukturen der modernen Lyrik, wie z. B. Hermetik und „offene“ Form
(vgl. Löhner 1986: 26f.)
In den späten Hymnenfragmenten verschwinden die antiken Mythologeme
allmählich, während die heraldische Ding- und Pflanzenmetaphorik aus dem
hesperischen und pazifischen Kulturkreis zunimmt (pflanzliche Bilder wie Blume,
Korn, Beere, aber auch Begriffe für einzelne Arten bzw. Spezies wie Eiche, Efeu,
Lorbeer, Palme und unbeseelte Strukturmetaphern wie Kristall und Korall). Das
ist ebenfalls Teil des mythogenetischen Prozesses: einer proteischen Verwandlungs
reihe, einer schier unendlichen Metamorphose. Der motivisch-topischen Substi
tution entspricht eine geographische: im ‘Tinian’-Fragment wird deutlich, daß
Hölderlin in den Weiten der Südsee eine paradiesische Urlandschaft suchte, die
ihm in Griechenland endgültig unter Trümmern begraben oder von türkischer
Fremdherrschaft erstickt schien (vgl. Martin 1994: 175-190). In den Fragmenten
‘Griechenland’ I-III rückt das Italien Vergils an die Stelle des klassischen Hellas
(vgl. Nolte 1994: 199-218). Und in ‘Andenken’ wird Südfrankreich Hölderlin in
einer topographischen Schweifbewegung zum Ersatzgriechenland oder
„geschichtsphilosophischen Umschlagplatz“ (Bennholdt-Thomsen 1995: 302).
Für die theologisch oder philosophisch früher gesicherten Entitäten („Gott“,
„Kühnheit“, „Schönheit“, „Harmonie“ etc.) werden nun keine mythischen He
roen mehr substituiert, sondern Naturchiffren. Die Natur ist gleichsam die letzte
Mythologie vor dem Nichts. Wie verzweifelt Hölderlin in seinem Spätwerk vor
der Zäsur durch die Krankheit in Antike, Mittelalter und Neuzeit nach Quellen
für seine Mythogenese suchte, wird in der Vielfalt der Themen und Figuren deut
lich, denen Hölderlin sich annimmt, oft nur in Bruchstücken und flüchtigen
Fragmenten: Philosophen (Sokrates), Entdecker (‘Kolomb’), Südseefahrer
25 „Monstrosität“ hier nicht im Sinne der ersten Bedeutung von monstrosus, monstrositas (also
„widernatürliche Geburt“, „Mißbildung“, vgl. Zedier: XXI, Sp. 486 und 1220), sondern im
Sinne von monstrum, portentum, ostentum, prodigium, also „Zeigendes“ oder
„Zeichenhaftigkeit“ einer „Einzigartigkeit der Natur“ (vgl. Hagner 1995: 8 und 14).