Page 185 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Typologie der Johannesgestalt 183
Gefährlichkeit. Corrodi relativiert damit das pietistische „Menschenhände-thun-
nichts-dabey“ Oetingers (vgl. Gaskill 1970: 26). Er dokumentiert damit einmal
mehr, daß polemische und parteische Darstellungen zur Vervollständigung eines
Gesamtbildes beitragen können.
Der Täufer erhält bei Hölderlin damit eine heroische Komponente und rückt
im Rahmen der Patmoshymne an die Seite der „Todeshelden“ (‘Patmos’ I,
V. 105), also der Jünger, die selbst den Tod nicht scheuten, um Zeugnis abzulegen
für Christus. Die Bezeichnung „Todeshelden“ relativiert übrigens auch die rein
pneumatische Gesinnung der Jünger; in ihrer Rolle als potentielle Märtyrer be
weisen auch sie eine Fähigkeit zur entschlossenen Tat.
Unabhängig von der historischen Identität der verschiedenen Johannes
gestalten,171 gestaltet Hölderlin die drei Rollen als harmonische Entgegensetzung
von Johannes dem Evangelisten und Apokalyptiker einerseits und Johannes dem
Täufer andererseits. Jünger, Apokalyptiker und Evangelist wurden zur Zeit
Hölderlins noch weitgehend miteinander identifiziert. Damit kann Hölderlin alle
Stufen seiner messianischen Mythogenese in einem Namen („Johannes“) zusam
menfassen: ein Name impliziert (für Hölderlins Zeit) zwei historische Personen (1.
Evangelist und Verfasser der Offenbarung; 2. Täufer), die wiederum drei Funk
tionen darstellen : 1. Pneumatiker; 2. Apokalyptiker und 3. Zelot.
Als Evangelist verkörpert Johannes die ikarische Rolle. Johannes der Täufer
wird dem ikarischen Verfasser des pneumatischen Evangeliums als herakleisch zelo-
171 Für Hölderlins Wissensstand gilt: Jünger, Evangelist und Apokalyptiker waren identisch
(vgl. Killy 1985: 75; Schmidt 1990: 189). Johannes galt als der jüngste und „Lieblingsjünger“
Jesu (‘Patmos’, VV. 75-79 und Jh 21). So erklärt sich seine Schlüsselstellung für das Pro
blem von Nah- und Fernerwartung: Einerseits kannte Johannes Jesu Lehre noch aus dessen
Munde, hatte er also Teil an der Naherwartung der Apostel, die unmittelbar um Jesus wa
ren. Andererseits konnte er auch am eigenen Leibe die Enttäuschung darüber erfahren, daß
Jesus auch Jahrzehnte nach seiner Auferstehung nicht wiederkehrte, die Parusie sich also
entgegen Jesu eigenem Versprechen verzögerte (vgl. Link 1997). Die moderne Forschung
unterscheidet zwischen Johannes dem Apostel, Johannes dem Jünger Jesu und Johannes
dem Täufer.
Der Apostel Johannes war der Sohn des Zebedäus und gehörte mit Petrus und seinem
Bruder Jakobus zu den drei engsten Vertrauten Jesu unter den 12 Aposteln. Johannes der
Jünger, auch Johannes der Alte von Ephesus“ genannt (Bertholet 1985: 281/2), gilt als Ver
fasser von Evangelium und Offenbarung (vgl. Jh 21). Er wirkte zwischen 90 und 100
n. Chr. während der Christenverfolgungen unter Kaiser Domitian. Von 81-96 n. Chr. lebte
er in der Verbannung auf Patmos (vgl. Schmidt KHA II: 980). Johannes der Täufer schließ
lich wirkte von 27 bis 29 n. Chr. in der Jordansteppe (vgl. Bertholet 1985: 281/2-282/1),
wo er das Kommen des Messias predigte, Gefolgsleute um sich scharte und Jesus nach jüdi
schem Brauch taufte (Reimarus 1993 [1778]: 257-259).
Allerdings kann Johannes der Alte nur ein Verfasser unter mehreren Autoren gewesen
sein, denn die Offenbarung besteht aus mindestens zwei Schichten der Überlieferung: ei
nem jüdischen Kern (vor allem die Weissagung von der Geburt des Messias als das „Weib“
Israel, Offb 11, 15 - 12, 17) und christlichen Interpolationen (vgl. Taubes 1991: 69f.).