Page 186 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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184             IV.  K apitel:  Ikarus,  C hristus und Joh an n es

           tischer Gegenpol harmonisch entgegengesetzt.  Diese Entgegensetzung nach außen
           spiegelt sich innerhalb der ersten Johannesfigur, und zwar in dessen zweiter Rolle:
           als  Apokalyptiker,  der  prophetisch-geistig  von  einem  politisch-tätigen  Ende  der
           bestehenden  Ordnung  kündet.  Die  Doppelfunktion  des  Johannes  als  Evangelist
           und  Apokalyptiker macht die proteische  Natur der Johannesgestalt nach innen, die
           Gegenüberstellung mit dem Täufer nach außen deutlich.
               Der  Apokalyptiker  versöhnt  in  sich  Geist-  und  Tatprinzip  und vereint  die
           beiden Bedeutungsbereiche, pneumatisches und heroisches Prinzip, wie die Paral­
           lelisierung von Johannes  (dem Apokalyptiker)  mit  „Christus“  und  „Herkules“  in
           ‘Patmos’  II  (VV. 53-57)  beweist.  Die  merkwürdige  Identität  von  ikarischer  und
          proteiscber Stufe  in  der  Doppelgestalt  von  Johannes  dem  Apokalypti-

           ker/Evangelisten  bestätigt  die  dialektische  Stringenz  der  messianischen
           Mythogenese.  Der  Ikarus  (also  Evangelist  von  einst)  wird  durch  die  ikarisch-

           herakleiscbe Entgegensetzung (pneumatischer Evangelist versus politischer Täufer)
           gesteigert  zum  Proteus  (politisch-geistiger Apokalyptiker).  Der proteische Apoka­

           lyptiker  nimmt  die Ikarusidentität  des  Evangelisten  in  sich  hinein;  die  heroische
           Facette  wird  dagegen  in  Gestalt  einer  politischen  Kämpferfigur  hypostasiert.
           Dieser  Konstellation  entsprechen  Alabanda  im  Hyperion, Eduard  in  ‘Die

           Dioskuren’ und Herakles in ‘Chiron’.
               Im folgenden sei diese johanneische Typologie, die spekulativ aus den mytho­
           logischen  Arbeitsbegriffen  abgeleitet  ist,  textnah  ausgeführt.  Der  Evangelist  und
           Lieblingsjünger Johannes  ist  der  „einfältig“  verinnerlichte  Geistmensch,  der Jesus
           wie  kein  anderer von Angesicht  zu  Angesicht  geschaut  und  seine Körperlichkeit
           erlebt hat:

                         [...] denn
                         Es liebte der Gewittertragende die Einfalt
                         Des Jüngers und es sähe der achtsame Mann
                         Das Angesicht des Gottes genau [...] (‘Patmos’ I, VV. 77-80)
           Erst  dem  Johanneischen  Logosentwurf  verdanken  die  Jünger  ihre  Einheit  in
           Christus  über  den  Tod  ihres  Herrn  hinaus,  wie  die  johanneisch-pneumatische
           Version  des  Pfingsterlebnisses  zeigt.  Der  Evangelist  verkörpert  deutlich  die
           ikarische Geistbetonung:

                         Drum sandt’ er ihnen
                         Den Geist, und freilich bebte
                         Das Haus und die Wetter Gottes rollten
                         Ferndonnernd über
                         Die ahnenden Häupter, da, schwersinnend
                         Versammelt waren die Todeshelden [...] (‘Patmos’ I, W .  100-105)
           Der Täufer bildet  dagegen  das  harmonische  Komplement,  die zutiefst jüdisch  in­
           spirierte  Diesseitigkeit  der  politischen  Messianität  mit  ihrem  herakleischen
           Tateifer,  ihrer Ethik des Kampfes.  Das  wird deutlich,  wenn Hölderlin diese  Ent­
           gegensetzung zwischen  pneumatischem  Evangelisten  und  zelotischem  Täufer  im
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