Page 187 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 187
Typologie der Johannesgestalt 185
pointierten Gebrauch der Metapher des „Hauptes“ kontrastiert: Die „Häupter“
der pneumatischen Geistjünger sind „ahnend“ (V. 104) und „schwersinnend“
(ebd.), das Pfingstgeschehen ereilt sie passiv. Das „Haupt“ des aufrührerischen
Täufers dagegen ist der römischen Gewaltherrschaft zum Opfer gefallen, grausige
Folge seiner politischen Aktivität:
[...] und das Haupt
Des Täufers gepflückt, war unverwelklicher Schrift gleich
Sichtbar auf weilender Schüssel. (‘Patmos’ II, VV. 45-47)
Das Bild von der „unverwelklichen Schrift“ (V. 46) des verhängnisvollen Schick
sals verdichtet die pneumatisch-apokalyptische Doppelintention der gesamten
Hymne: Wort, Buchstabe und Schrift gemahnen stets an die tätige, politisch und
apokalyptisch nahe Veränderung der Welt im Sinne einer kämpferischen Erlö
sung. Schicksal (Enthauptung) und typologische Bedeutung des Täufers (er
präfiguriert den Messias) lassen diese Figur ebenfalls zwischen der „Tragik“ der an
tiken „Todeshelden“ und dem christlichen Messianismus oszillieren. Den
Märtyrer kann man in diesem Sinne auch als einen gescheiterten oder ikarischen
Messias auffassen. Die Legendenbildung hat die Liebesverstrickung des Johannes
mit Salome, der Tochter des Herodes, in den Vordergrund gerückt, wobei die po
litische Geschichte des Empörers und Aufrührers in den Hintergrund trat.172
Als Zelot und „Eiferer“ steht Johannes der Täufer den militärischen Wider
standsbewegungen, den radikalen Flügeln der apokalyptischen Bewegungen nahe.
Diese Nähe des Täufers zur kämpferischen Zelotenbewegung, die die Römer erst
nach erbittertem Widerstand und fanatischem Massenselbstmord aller Überleben
den auf dem Tafelberg von Massada 71 n. Chr. niederringen konnten, beschwört
Jesus selbst in seinem berühmten Spruch über die „Gewalttäter“ (Mt 11, llf.) und
„Stürmer“ (Taubes 1991: 45; 72):
Wahrlich, ich sage euch: Unter allen, die von einer Frau geboren sind, ist keiner aufge-
treten, der größer ist als Johannes der Täufer; der aber der Kleinste ist im
Himmelreich, ist größer als er. / Aber von den Tagen Johannes des Täufers bis heute
leidet das Himmelreich Gewalt, und die Gewalttätigen reißen es an sich.173
172 Vgl. Kommentar in der Ausgabe von Günther Mieth: „In der Krypta der Denkendorfer
Klosterkirche steht noch heute ein frühgotisches Schnitzwerk, das die Schüssel mit dem
Haupt Johannes des Täufers darstellt, an den Wänden finden sich Spuren von Fresken mk
dem gleichen Stoff.“ (Mieth 1990 [1970]: 777, Kommentar z. St. 205, 144; vgl. Mt 14, 2-12;
Mk 6, 25-29)
173 Im Hymnenentwurf ‘An die Madonna’ rückt Hölderlin die Täufergestalt umgekehrt in die
Nähe des hermeneutisch-geistigen Bereichs, wenn er von ihm sagt, er habe „Der Zunge
Gewalt, / Zu deuten“ (VV. 34f.). Die herakleische Kontur des Täufers („Gewalt“) bleibt
aber in seinem Attribut „kühn“ erhalten: „Denn damals sollt es beginnen / Als / Geboren
dir im Schoße / Der göttliche Knabe und um ihn / Der Freundin Sohn, Johannes
genannt / Vom stummen Vater, der kühne / Dem war gegeben / Der Zunge Gewalt, / Zu