Page 24 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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22                           Einleitung


           (‘Tinian’),  aber  auch  Religionsstifter,  deutsche  Kaiser,  Zaren  und  lokale  Fürsten
          irrlichtern  schemenhaft  durch  die  späten  Skizzen,  in  denen  Hölderlin  nach  mes-
          sianischen  Typologien  sucht,  und  „der Fürsten  /  Chor“  beschwört  (‘Blödigkeit’,
          VV.  llf.):  das  Kollektiv  der  hesperischen  „Reformatoren“  und  „Zeitveränderer“
           (Fragment Nr.  48,  VV.  12f.).  Wie eine  genealogische Dolde  hängen diese  „Blüten
          von  Deutschland“  (‘Vom  Abgrund  nämlich...’,  V. 35)  im  Fragment  Nr.  48  von
           „Mahomed“, dem Inbild des orientalischen Religionsstifters, herab:
                        So Mahomed t, Rinald,
                        Barbarossa, als freier Geist,
                        Kaiser Heinrich.
                        Wir bringen aber die Zeiten
                        untereinander                                     5
                                Demetrius Poliorcetes
                        Peter der Große
                                Heinrichs
                         Alpenübergang und daß
                        die Leute mit eigner Hand er gespeiset            10
                         und getränket und sein Sohn Konrad an Gift starb
                        Muster eines Zeitveränderers
                        Reformators
                         Konradin u. s. w.
                         alle, als Verhältnisse                           15
                         bezeichnend. [...]
           Zugegeben,  die  Länge  der  Namensliste  und  die  Fülle  der  historischen  Anspie­
           lungen ist auf den ersten Blick sehr verwirrend und poetisch wenig aussagekräftig.
           Verwechslungen machen den Text nicht transparenter. Inwieweit die messianische
           Mythogenese  aber  auch  die  dunklen  Winkel  von  Hölderlins  Lyrik  erhellt,  zeigt
           eine knappe hermeneutische Ergänzung des Fragments.
               Michael  Franz  hat  gezeigt,  daß  Hölderlin  in  V. 2  des  Entwurfs  Friedrich  I.
           („Barbarossa“,  1122-1190) mit seinem Enkel, dem Stauferkaiser Friedrich II. (1194-
           1250), verwechselt  (vgl.  Franz  1973/74:  136-138).  Nur so  erklärt  sich die  modale
           Ergänzung „als freier  Geist“  im  gleichen Vers.  Denn  Friedrich  I.  Barbarossa,  der
           kriegserfahrene Italienfeldherr und Teilnehmer am 3. Kreuzzug, der 1190 im Fluß
           Saleph  in  voller  Rüstung  ertrank,  war  eher  ein  ritterlicher  Haudegen  als  ein
           aufgeklärter „freier Geist“.  Ganz anders sein späterer Nachfolger Friedrich II.  aus
           Apulien, der als König von Sizilien Kunst und Kultur förderte und ein berühmtes
           Buch  über  die  Falknerei  schrieb.  Spekulativ  verknüpft  Franz  mit  dieser
           Kaiserverwechslung  die  sogenannte  „Kyffhäuserlegende“,  die  sich  um  die
           schillernde  Gestalt  des  Apuliers  rankte.  Im  Spannungsfeld  zwischen  den
           päpstlichen Gegnern der Staufer, die die Welfen für den Kaiserthron favorisierten
           (sich daher „Guelfen“  nannten)  und den kaisertreuen  Reichsanhängern  in Italien,
           den  Waiblingern  oder  „Ghibellinen“,  bildete  sich  folgende  Überlieferung.
           Schlafend  überdauerte  Friedrich II.  nach  seinem  Tod  im  Kyffhäuser  (einer
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