Page 25 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 25
H ölderlins messianische Mythogenese 23
Bergregion südöstlich des Harzes) die Zeiten. Dies allerdings nur, um eines Tages
mit einer ganzen Armee aufzuerstehen, das Land von seinen Feinden zu befreien
und das Reich wiederzuerrichten. Die Staufergegner verkehrten diese
Überlieferung polemischerweise, indem sie den auferstandenen Kaiser mit dem
Antichrist gleichsetzten. Im nachhinein wurde die Legende jedoch von der aufge
klärten Lichtgestalt Friedrichs II. auf den Italienkämpfer und Kreuzfahrer
Friedrich I. Barbarossa übertragen (vgl. LdM V: 1596). Das Volksbüchlein vom
Kaiser Barbarossa (1519) folgte bereits dieser falschen Zuordnung der Legende.
Eine östliche Variante der Legende erzählt von einem letzten Kaiser Ostroms, der
Jerusalem26 neu beherrscht, den Antichrist nach langem Endkampf besiegt und
das Reich Gottes bringt (vgl. Kantorowicz :1964: 471-489; Mähl 1965: 213-232;
Frenzei 61983: 226-230).27
In der Gedichtskizze ‘Einst hab ich die Muse gefragt...’ entwirft Hölderlin in
unmittelbarer Nähe zu apokalyptischen („Himmelszeichen“, V. 12) und my
thischen Denkfiguren („Herkules“, V. 14) das Bild von „Falke“ und „Reuter“, das
als Anspielung auf Friedrich II. gelesen werden kann. Der „Falke“ (V. 16) ver
sinnbildlicht analog zum Adler beim späten Hölderlin den Führungsanspruch des
„Fürsten“ (ebd. V. 21), der dem Volke als geistiger Führer vorausfliegt, wie er es
als heroischer Reiter anführt:
26 Vgl. ‘Patmos’ II*: „Und auch möcht /Ich die Fahrt der Edelleute nach / Jerusalem, und wie
Schwanen der Schiffe Gang und das Leiden irrend in Canossa, brennendheiß / Und den
Heinrich singen.“ (VV. 60-63; Hervorhebungen Jochen Schmidt)
27 Ernst Kantorowicz porträtiert den Staufer im Kontext messianischer Kaiserattribute
(„Dominus mundi“ und „cooperator Dei“, vgl. Kantorowicz 1964: 472f.). Die sizilianischen
Hofdichter übertrugen die Heilsprophezeiung Vergib (Augustus als „puer nascens“) auf
Friedrich II. von Hohenstaufen. So feierte Petrus de Vinea (= Pier della Vigna, um 1190
bis 1249) Friedrich als „puer Apuliae“ (ebd. 476). Man bedenke, daß das Geschlecht der
schwäbischen Waiblinger in Orts- und bürgerlichen Familiennmen wach blieb, mit
Friedrich Wilhelm Waiblinger sogar im unmittelbaren Bekanntenkreis Hölderlins (vgl.
dazu auch Rosteutscher 1966: 66). Die Erwähung „Kaiser Heinrichfs]“ des VI. (Fragment
Nr. 48, Z. 3), Sohn „Barbarossa[s]‘‘ (Fragment Nr. 47, Z. 12) und Vater Friedrichs II. läßt
gar vermuten, daß Hölderlin eine Epochenparallele 1200/1800 vorschwebte: Der Tod
Heinrichs 1198 bedeutete das Ende seiner Vision vom Römischen Kaisertum als erbliches
Vermächtnis für sein Geschlecht. Säkularer Reichsgedanke und sakrales Gottesgnadentum
fielen damit endgültig auseinander. Die hymnische „Salbung“ Friedrichs II. ist nach dieser
Zäsur um 1200 nur noch als Versuch elegischer Linderung eines deutschen Nationalleidens
zu verstehen: des notorischen Mangels an einer Zentralmacht, die Abwesenheit eines
großen „Einzigen“ und Einenden. Formell und endgültig zerschlug erst Napoleon das
„Heilige Römische Reich deutscher Nation“ mit dem Reichsdeputationshauptschluß von
1803.