Page 26 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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24                            Einleitung


                         Viel täuschet Anfang
                         Und Ende.                          10
                         Das letzte aber ist
                         Das Himmelszeichen, das reißt
                             und [Lücke] Menschen
                         Hinweg. Wohl hat Herkules das
                         Gefürchtet. Aber da wir träge      15
                         Geboren sind, bedarf es des Falken,  dem
                         Befolgt’ ein Reuter, wenn
                         Er jaget, den Flug.
           Geschichtliche,  mythische  und  religiöse  Führer-  bzw.  Kündergestalten  geraten
           Hölderlin in  den  Sog seiner mythomessianischen Wunschphantasie,  die  die Kon­
           turen  historischer  Personen  verwischt  und  mit  mythischen  und  messianischen
           Figuren  verwebt.  Die  mittelalterliche  Kaiserlegende  wird  an  anderer  Stelle  mit
           antiker Mythologie austaffiert und messianisch aufgeladen:  das poetische Produkt,
           die  Figur  eines  „freien  Geistes“  „Barbarossa“  impliziert  eine  ikarisch-herakleische
           Synthese  als  Wunschbild  des  hesperischen  ,,Fürst[en]“  (‘Einst  hab  ich  die  Muse

           gefragt...’,  V. 20).  Die  Verwechslung ist  eine  Vereinigung des herakleischen Ritters



           (Friedrich  I.  Barbarossa)  mit  dem  ikarischen Aufklärer  und  freigeistigen  Falkner
           Friedrich II. Ein vollkommenes Beispiel für messianische Mythogenese.
               Erst vor diesem Hintergrund wird Hölderlins dialektisches Imminenzdenken
           verständlich:  Der  Dichter  mythisiert  und  historisiert  das  Theologem  vom
           diesseitigen  Messias.  Helden  der  messianischen  Mythogenese  wie  Friedrich
           (Barbarossa)  in  den  Fragmenten  Nr.  47  und  48  oder  wie  Herakles  aus  ‘Chiron’
           oder Odysseus im Hyperion verkörpern diese Zwiegestalt:  als Heros und Messias.

                                        Disposition

           Zunächst  sollen  die  geistigen  „Ursprünge“  (I.  Kapitel)  der  messianischen  Mytho­
           genese  erarbeitet  werden:  „Die  akademischen  Grundlagen“  (1).  Hölderlins
           Beschäftigung mit dem Parallelismus bei Salomo und Hesiod legt  dabei das struk­
           turelle  Fundament  für  sein  späteres  komparatistisches  Denken  und  seine
           synkretistische  Dichtung  (1.1).  Hölderlins  Bildungsgang,  die  Säkularisierung
           seines  theologisch  geschulten  Denkens  und  seine  Herder-Rezeption  rücken
           dadurch in den Mittelpunkt (1.2). Trotz aller Säkularisierungen in seinem Sprach­
           gebrauch bleibt  Hölderlin  einem  religiösen  Welt-  und Menschenbild verhaftet.27
           Poesie,  Philosophie,  Theologie  und  politischer  Diskurs  werden  nicht  nur  ver-


           gleichbar, sondern  bleiben  auch  gleichberechtigt nebeneinander  bestehen,  tragen
           die  „neue  Mythologie“  und  die  „neue  Religion“  (Hölderlin)  immer  auch  Züge

            27  Vgl.  dazu  Hölderlins  Theoriefragment  „Über  Religion“:  „So  wäre  alle  Religion  ihrem
               Wesen nach poetisch.“ (KHAII: 568, Z. 30). Dieser Satz, nur zu oft im „frühromantischen“
               Sinne gedeutet,  gerät im folgenden in ein neues Licht.
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