Page 228 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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226 V. K apitel: D er H eros als M essias
Auch Schillers berühmter Passus in der Ästhetischen Erziehung (1795), wo er das
Bild vom Künstler entwirft, der in der schönen Fremde heranreifen soll, damit er
um so edler und wirkungsvoller die heimische Unvollkommenheit überwinden
helfe, ist in diesen Zusammenhang zu stellen:
Der Künstler ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich
ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist. Eine wohlthätige Gottheit reisse den
Säugling bey Zeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines bessern
Alters, und lasse ihn unter fernem griechischen Himmel zur Mündigkeit reifen. Wenn
er dann Mann geworden ist, so kehre er, eine frem de Gestalt, in sein Jahrhundert
zurück; aber nicht, um es mit seiner Erscheinung zu erfreuen, sondern furchtbar wie
Agamemnons Sohn, um es zu reinigen. (Neunter Brief, SN A X X : 333, ZZ. 25-33)
Orest, „Agamemnons Sohn“, ist eine weitere mythische Maske für eine potentielle
Erlöserfigur: Mit dem Mord an seiner Mutter Klytemnästra sühnt er ihren Ehebe
trug mit Agisth und den Mord an ihrem Ehemann Agamemnon. Auch kehrt er
nach Mykene zurück, um Elektra und die von Ägisth beherrschten Mykener zu
befreien. Er reinigt die Stadt von Schuld und Tyrannei ebenso wie Odysseus sein
Haus in Ithaka oder der „Dulder Ulyß“ potentiell im Hyperion das absolutistische
deutsche Haus. Mit der Orestmythisierung gewährt Schiller seinem „Künstler“ ei
nen politischen und historischen Stellenwert, der ganz nah an die politisch-
messianische Lesart des Odysseusvergleichs in der Scheltrede heranreicht. Oder
umgekehrt: Der „Dulder“ bei Hölderlin wird erst plastisch, wenn man den paral
lelen Entwurf des Künstlers bei Schiller als „Rächer“ und „Reiniger“ einbezieht.
Die Orestpassage ist tatsächlich so etwas wie die „dünne Stelle“ von Schillers Kon
zept einer „ästhetischen Eschatologie“: Im Orestvergleich bricht das Heroische
und Politische seines Denkens so deutlich hervor wie nirgends sonst; aber das My
thische ist für Schiller bereits Teil der künstlerischen Formung und Filtrierung
des Realen, wie seine vielen Mythisierungen an gleicher Stelle zeigen. Die Anspie
lungen auf Zeus und Achill im Achten Brief machen deutlich, daß Schiller nicht
auf eine Politische Mythologie und Theologie hinauswill (so unabweislich sie sich
sich z. B. in der Orestparallele auch aufdrängen):
Der Konflikt blinder Kräfte soll in der politischen Welt ewig dauern, und das gesellige
Gesetz nie über die feindselige Selbstsucht siegen? Nichtsweniger! Die Vernunft selbst
wird zwar mit dieser rauhen Macht, die ihren Waffen widersteht, unmittelbar den
Kampf nicht versuchen, und so wenig als der Sohn des Satum s in der Ilias [ = Zeus],
selbsthandelnd auf den finstern Schauplatz herunter steigen. Aber aus der Mitte der
Streiter wählt sie sich den würdigsten aus, bekleidet ihn wie Zeus seinen Enkel
lersgestalt (XVII, 336-338); Wiedererkennen des berufenen Befreiers durch die gerechte
Kreatur, den Hund Argos (XVII, 296-303); die Verknüpfung der allmählichen Enthüllung
von Odysseus’ wahrer Identität mit einer Weissagung (Theoklymenos prophezeit Penelope
die bevorstehende Ankunft ihres Mannes und das Ende der Freier: XVII, 151-159); die
Stigmatisierung durch die Narbe, an der ihn die Magd Eurykleia bei der Fußwaschung er
kennt (Odyssee XIX).