Page 229 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Individuelle und universelle Eschatologie      227

           [=  Achill]  mit  göttlichen  Waffen,  und  bewirkt  durch  seine  siegende Kraft  die  große
           Entscheidung.  (SNA X X : 330, ZZ.  19-29)
       Schiller maskiert  mit  seinen  Herosgestalten  eher psychologische  Begriffe,  wie  sie
        „der muthige Wille“  (330,  ZZ. 3 lf.)  und das „lebendige Gefühl“  (330, Z. 32)  nahe­
       legen. Diese internalisierten Vermögen des Menschen,  seine Anlage zu heroischer
       Perfektibilität,  sind  die  eigentlichen  „Vollstrecker“  der  moralischen  und  ästheti­
       schen Erlösung. Nicht kämpferische Messiasfiguren im politischen Sinne, sondern
       innere  Erkenntnis-  und  Empfindungskräfte  des  Menschen  sind  zum  „Sachführer
       im  Reich  der  Erscheinungen“  bestimmt  und  garantieren  den  Triumph  der  Ver­
       nunftwahrheit in der Geschichte:
           Wenn die Wahrheit im Streit mit Kräften den Sieg erhalten soll, so muß sie selbst erst
           zur Kraft  werden,  und zu ihrem Sachführer im Reich der Erscheinungen einen  Trieb
           aufstellen;  denn  Triebe  sind  die  einzigen  bewegenden  Kräfte  in  der  empfindenden
           Welt.  (Achter Brief, ebd. 330, Z. 32 - 331, Z.  1 - Hervorhebungen original)
        „Kraft“  und  „Trieb“  sind  die  vergeistigten  Agenten  alles  geschichtlichen  und  ge­
       sellschaftlichen  Wandels;  das  Schlachtfeld  des  messianischen  Endkampfs  ist  also
       die Mentalität des Menschen.  Aller Kampf ist letztlich nur Widerstreit des Geistes
       mit  dem  Körper,  von  „Kraft“  und  „Trieb“210  oder  Stoff  und  Wirklichkeit.  Das
       veranschaulicht  Schiller mit  der mythischen  Geburt  der Athene  aus  dem Haupte
       des Zeus:
           Nicht  ohne  Bedeutung  läßt  der  alte  Mythus  die  Göttinn  der Weisheit  in  voller  Rü­
           stung  aus Jupiters  Haupte  steigen;  denn  schon  ihre  erste  Verrichtung  ist  kriegerisch.
           Schon in der Geburt hat sie einen harten Kampf mit den Sinnen  zu bestehen,  die aus
           ihrer süßen Ruhe nicht gerissen seyn wollen.  (Achter Brief, ebd. 331, ZZ. 29-33)
       Schiller gibt also einer ästhetischen Eschatologie den  Vorzug,  die zunächst  die  indi­
       viduelle  Erlösung  des  Menschen  durch  Kunstgenuß,  Bildung  und  Erkenntnis
       vollzieht  (vgl.  Taubes  1991:  76).  Hölderlin hält  dagegen  mit  seiner mythomessia-

        nischen  Aufladung  der  Odysseusfigur  an  einer  politischen  Eschatologie im

        universellen Sinne fest.  Das zeigt  die Schlußstrophe der Ode ‘Chiron’,  auf die ich
        im  nächsten Kapitel  eingehen  werde. Die  Abwesenheit  des Herakles  präfiguriert


         210  Bis zu einem gewissen Grade folgt Hölderlin seinem großen Vorbild auch in diesem Ver­
           such,  die  Erlösungskräfte  zu  internalisieren  und  als  psychologische  Vermögen  zu  fassen,
           die die menschliche Kultur als „Kunst- und Bildungstrieb“ gleichsam von innen heraus ver­
           ändern  (vgl.  Brief an  den  Bruder vom 4.6.1799,  KHAIII: 357,  ZZ. 5-8).  Aber  zum  einen
           will  Hölderlin definitiv über Schillers  „Philosophische  Briefe“  hinaus  (vgl.  KHA III: 225,
           ZZ.  18-29).  Zum  anderen  hält  er  eindeutig  am  messianischen  Grundgedanken  einer
           „ästhetischen  Kirche“  fest:  „Die  Bestandteile  des  Ideals  überhaupt  und  ihre  Verhältnisse
           philosophisch darstellen, würde schon schwer genug sein, und die philosophische Darstel­
           lung des Ideals aller menschlichen Gesellschaft, der ästhetischen Kirche, dürfte vielleicht in der
           ganzen  Ausführung  noch  schwerer  sein.“  (KHA III: 358,  ZZ. 21-26  -  1.  Hervorhebung
            original)
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