Page 230 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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228                 V . K apitel:  D er H eros als M essias

          dort  die Imminenz Christi;  die  Gewißheit seines Kommens zeugt von Hölderlins
          Festhalten an einem politisch diesseitigen Zug seines Erlösungsdenkens:
                        Nim m  nun ein Roß, und harnische dich und nimm
                         Den leichten Speer, o Knabe! Die Wahrsagung
                          Zerreißt nicht, und umsonst nicht wartet,
                           Bis sie erscheinet, Herakles Rückkehr. (‘Chiron’, VV. 49-52)

          Es  hat  sich  gezeigt:  Die  Durchführung von  Heimkehrermotiv,  Fremdlingstopos
          und  messianischem  Mythenbild  kulminiert  in  der  Evokation  einer  Erlöser-,  Ret­
          ter- und Reinigerfigur in der Phantasie der (deutschen) Intellektuellen am Ausgang
          des  18. Jahrhunderts.  Passive  und  aktive  Züge,  mythische  und  geschichtsphiloso­
          phische  Bedeutungen,  individuelle  und  universelle  Eschatologie  treten  dabei  in
          eine einmalige Wechselwirkung.


                 2. Paulus und Chiron. Die messianische Überwindung des Tragischen

          Drei  große  christliche  Gestalten  des  Durch-  und  Übergangs  haben  Hölderlin  in
          seinem  späten  Oden- und Hymnenwerk bewegt:  Christus, Johannes  und Paulus.
          Die  ersten  beiden  hat  er  sich  exoterisch  in  Form  der  beiden  großen  Christus­
          hymnen  ‘Der  Einzige’  und  ‘Patmos’  anverwandelt.  Paulus,  den  Hölderlin  in
          einem  Brief an Ebel von  1795  ausdrücklich  als  „Mann  [s]einer Seele“  bezeichnet,
          widmet Hölderlin sich eher esoterisch:
              Sie  wissen,  die  Geister  müssen  überall  sich  mitteilen,  wo  nur  ein  lebendiger  Othem
              sich  regt,  sich  vereinigen  mit  allem,  was  nicht  ausgestoßen  werden  muß,  damit  aus
              dieser  Vereinigung,  aus  dieser  unsichtbaren  streitenden  Kirche  das  große  Kind  der
              Zeit,  der  Tag  aller  Tage  hervorgehe,  den  der  Mann  meiner  Seele  (ein  Apostel,  den
              seine  jetzigen  Nachbeter  so  wenig  verstehen,  als  sich  selber)  die  Zukunft  des  Herrn
              nennt.  Ich  muß  aufhören,  sonst  hör’  ich  gar  nicht  auf.  (KHA III: 207,  ZZ.  19-27  -
              Hervorhebung original).
          Hölderlin  deutet  hier sein  modifiziertes Paulus-Verständnis  an.  Mit Blick  auf die

          Nähe paulinischer Gedanken, wie der „Zukunft des Herrn“ 21', zu  seinen eigenen 2 1 1


           211  Diese  „Zukunft“ des Herrn ist es, die Hölderlin  bei  Paulus  (1  Thess 4,  15) in seinem Brief
              an  Hegel  aufgreift  und  ganz  im  eschatologischen  Sinne  von  „Ankunft“,  „Wiederkunft“
              meint.  Die  etymologische  Ableitung  der  Wörter  „Zukunft“,  „Ankunft“  und
              „Wiederkunft“  von  „Kommen“  im  messianischen  Sinne  deckt  sich  mit  der  terminologi­
              schen  Konvention  der  Zeit.  Heinrich  Corrodi  bemerkte  polemisch  gegen  Reimarus,  daß
              der  sich  irre,  wenn  er  die  christliche  Messiasvorstellung  unmittelbar  aus  dem  jüdischen
              Verständnis einer „zweyten Zukunft“ des Herrn ableite. Die Vorstellung vom Messias, der
              zunächst  in  Knechtsgestalt  („erste  Zukunft“)  und  erst  später  in  Königsgestalt  komme
              („zweyte  Zukunft“),  sei  vielmehr  eine  genetisch  neue  und  allein  christliche  Prägung
              (Corrodi  1794 [1781]: I, 390f.). Interessant ist hier ungeachtet der Details die etymologisch-
              chiliastische Bestimmung des Wortes „Zukunft“.
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