Page 231 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Paulus und Chiron                      229


        säkularisierten  Utopievorstellungen  („Reich  Gottes“,  „unsichtbare  Kirche,  vgl.
        Schmidt KHA EU: 832)  erscheint  es aber legitim,  Hölderlin eine unorthodoxe In­
        terpretation  der  Paulusfigur  und  eine  mythisierende  Verarbeitung  der
        Paulusgestalt  zuzutrauen.  Nicht  nur historisierende  Sichtweisen  auf den Apostel,
        wie etwa die empirische Destruktion des apostolischen  „zweiten Systemas“  durch
        Reimarus  sind  Hölderlin  bewußt,  worauf  die  Auslassung  der  Auferstehungs­
        geschichte in  ‘Patmos’  verweist  (vgl. Reimarus  1993 [1778]:  289; 290-298,  §§ 33-35
        und  986ff.).  Indem  Hölderlin  das  fragwürdige  Paulusbild  seiner  Zeit  kritisiert,
        rechtfertigt  er  auch  seinen  mythisierenden  und  poetisch  paraphrasierenden  Um­
        gang  mit  Gestalt  und  Gedanken  des  Apostels.  Die  pneumatische  Sentenz:  „Der
        Buchstabe tötet,  aber der Geist macht  lebendig“  (2 Kor 3,  6 b)  war darüberhinaus
        so  etwas  wie  das  Säkularisierungsmotto  der  zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts
        (vgl.  FHA  Suppl.  III:  130,  V.  13;  Schmidt  KHA III: 833  und Moritz  1968  [1786]:
        2).  Ganz  unverhohlen  empfiehlt  Hölderlin  in  einem  Brief  an  Hegel  die
        „Paulinischen  Briefe“  als  Rohmaterial  für  die  geschichts-  und  religions­
        philosophische Spekulation, wobei er sich wohl auf die Vorarbeiten zu der Schrift
        „Der Geist des Christentums und sein Schicksal“  bezieht,  an der sein (ehemaliger)
        Stiftsgenosse  zwischen  1798  und  1800  arbeitete:  „Ich  dachte  schon,  eine  Para­
        phrase der Paulinischen Briefe nach Deiner Idee müßte der Mühe wohl wert sein.“
        (KHA III: 208, ZZ. 35-37)
           In  der  ‘Friedensfeier’  verarbeitet  Hölderlin  ebenfalls  paulinische  Denkfigu­
        ren,  um  die  „Allfülle“,  das  pleroma  (Kol  1,  19)  des  „Friedefürsten“,  und  die
        „Wiederbringung  aller  Dinge“,  die  apokatdstasis pdnton oder  das  „Alles-in-allem“

        (1 Kor 15, 28),  theologisch  zu  untermauern  (vgl.  Schmidt  1990:  98-100).  Auch
        seine Christushymnen ‘Der Einzige’ und ‘Patmos’  grundiert Hölderlin mit Theo­
        logemen  aus  den  katholischen  Briefen  und  dem  Johannesevangelium,  allerdings
        nicht  nur,  wie  schon  gezeigt,  im  strikt  pneumatischen  Sinne,  sondern  auch  har­
        monisch versetzt mit apokalyptischen Elementen und Politischer Theologie.
            Inwieweit  aber  sind  Christus, Johannes  und Paulus  überhaupt  solche  Kreu­
        zungspunkte,  von  denen  eingangs  die  Rede  war?  In  Christus  kreuzen  sich  die
        großen  Göttergestalten  des  Ostens  und  Westens,  Dionysos  und  Herakles.  Auch
        historisch markiert der „Syrier“, wie Hölderlin den historischen Jesus gerne nennt
        (‘Brot  und  Wein’,  V.  156;  ‘Friedensfeier’,  V. 42),  den  Übergang  zwischen
        „Antike“  und  „Moderne“,  wobei  „Moderne“  hier  im  zeitgenössischen  Sinne  ver­
        standen  sein  will,  etwa  in  der Weise,  wie  Friedrich  Schlegel  von  „romantischer“
        oder  „moderner“  (also  nachantiker)  Poesie  spricht  (dazu  auch  KHA III: 334,
        ZZ. 6-13,  wo  Hölderlin  das Wort  „modern“  zum  ersten und einzigen Mal  in  sei­
        nem Werk gebraucht, vgl. Gaier 1995: 21f.).

            In Jesu  Lieblingsschüler Johannes überkreuzen  sich die  Hauptstränge  messia-
        nischer Erlösungshoffnung, Nah- und Fernerwartung, - jüdischer und christlicher
        Messianismus.  Paulus  schließlich  markiert  den  dialektischen  Übergang von  früh­
        christlich-jüdischer Apokalyptik, die das Himmelreich als nahe und imminent auf­
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