Page 232 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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230 V. Kapitel: D er H eros als M essias
faßte, zur verinnerlichten Mystik und Pneumatik. Oder, wie Jacob Taubes
formuliert:
Paulus bezeichnet genau den Ort der Wende von der christlichen Apokalyptik zur
christlichen Gnosis. Eschatologie und Mystik kreuzen sich bei Paulus.
(Taubes 1991: 67)
Dieses Zugleich von Eschatologie und Mystik gestaltet Hölderlin in der Ode
‘Chiron’. Das Gedicht legt neben der Fülle von Deutungen und Tiefenschichten
der Zentaurengestalt vor allem eine Interpretation von dessen Zwiegestalt nahe,
wenn man die Frage nach dem Messias ins Zentrum rückt: Chiron ist eine säkula
risierte, mythologisierte Figuration der Dialektik von Nah- und Fernerwartung,
von transzendentem und immanentem Messianismus. Wie die Doppelnatur des
Saulus/Paulus verdichtet die kentaurische Gestalt Chirons (Tier/Mensch; Lehrer
der SangesVWaffenkunst; Sünde/Heil; Körper/Geist) diesen Kreuzungspunkt
zweier Messiasvorstellungen. Die Naherwartung (jüdisch, frühchristlich, apokalyp
tisch) äußert sich in Chirons ekstatisch-prophetischer „Tag! Tag“-Vision der Verse
41ff. und seiner messianischen Gewißheit um die Rückkehr des Herakles
(VV. 51f.). Das Vertröstungsdilemma der Fernerwartung (paulinisch-pneumatisch
oder mystisch aufgefaßt) offenbart sich in der Kluft zwischen Christi Tod und sei
ner nicht erfolgten Wiederkehr, der Parusieverzögerung. Das dilatorische Problem
wird durch Chirons Vergiftung und die Abwesenheit des Herakles mythisiert.
Analog zum Prozeßcharakter, der für viele Gedichte Hölderlins typisch ist,
kommt es auch im Verlauf der Chiron-Ode (und darüber hinaus auch im
Entstehungsproezß der Fassungen) zu einer Verschiebung von der eher resi-
gnativen Fernerwartung zur visionstrunkenen Naherwartung.
Das bedeutet eine Umkehr der paulinischen Tendenz von der Nah- zur Fern
erwartung: eine Zuspitzung der „nächtlichen“ Fern-, zur „mittäglichen“
Naherwartung. Diese Verschränkung von Analogie und Inversion des paulinischen
Denkens ist für die Gesamtanlage des Gedichts charakteristisch. In der Nacht
hälfte der Ode (Strophentrias I-II, VV. 1-24) dominieren die Bilder des Dunkels,
der Verlassenheit und der Abwesenheit des Gottes („Wo bist du,
Nachdenkliches!“, V. 1; „wo bist du, Licht?“, V. 2 und 10). Die „[H]erzlos[igkeit]“
(V. 11) und das „Hemmnis“ (V. 4) der „erstaunende[n] Nacht“ (V. 4) „zürnen“
(V. 3) dem Dichter.
Nachdem aber die „Tage“ „gewechselt“ haben (V. 33) und Chiron den „Gott“
„angesichts“ schaut (VV. 39-40), wird der schon verschollen geglaubte Gott irdisch
und „[einheimisch“ (V. 39). In der Taghälfte des Gedichtes (Strophentrias TTT-TV
und Strophe 13, VV. 25-52) erscheint die diesseitige Ordnung transformiert „und
die Erd’ ist anders“ (V. 40).
Wohlgemerkt: dieses Szenario apokalyptisch-messianischer Transformation
spielt sich allein im Kopf des Kentauren ab, sie sind visionäre Vorwegnahme des
Kommenden, aber vor allem auch prophetische Gewißheit im Sinne des paulini
schen Damaskuserlebnisses. Auch Paulus sah „plötzlich ein Licht vom Himmel“
(Apg 9, 3 b) und blieb drei Tage „nicht sehend“ (Apg 9, 9), Symptome, die auch