Page 28 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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          Schnurrer  bekannt.  Hier  wurde  die  urjüdische  Kontur  der  messianischen  Lehre
          zum ersten Mal in unmittelbarer geistiger Nähe zu Hölderlin formuliert.
              Weitere Unterkapitel  untersuchen zwei Begriffspaare,  die für Hölderlins my-
          thopoetische  Anverwandlung  der  messianischen  Idee  zentrale  Bedeutung  haben:
          „Die  Dialektik  von  Apokalyptik  und  Transitorik“  (4);  und  die  Spannung  von
          ‘Interiorisation’  und  ‘Exteriorisation’.  Dabei  entlehne  ich  für  die  Leitfrage  einer
          möglichen  „Rejudaisierung  des  christlichen  Messianismus“  (5.)  bei  Hölderlin
          meine beschreibenden Begriffe vor allem  der jüdischen Religionswissenschaft. Das
          legt  der  Schwerpunkt  meines  Ansatzes  nahe.  Allerdings  soll  auch  exemplarisch
          eine  maßgebliche  Quelle  für  die  anti-messianische  Schwärmerdebatte  im  18.
          Jahrhundert  beleuchtet  werden:  Heinrich  Corrodis  Kritische  Geschichte  des
          Chiliasmus  (1781).
              Die  Rezeption  der  Logos-  und  Genielehre  des  hellenistischen  Juden  Philo
          von  Alexandrien steht  dabei  als Brücke  in Kapitel II  zur Diskussion:  die phiioni­
          sche  „Logosspekulation  als  Vermittlung  zwischen  jüdischer  Ruach  und
          frühromantischem  Geistbegriff“  (1).  Philo  verbindet  jüdische  Präexistenzlehre
          und  griechische  Philosophie.  Aus  der  Phiionischen  Genielehre  und  Hölderlins
          messianischer Adaption  (2)  ergibt  sich  schließlich ein  zweiter Geniebegriff neben
          dem  klassischen:  Der  auserwählte  Dichter  und  Künstler  mit  messianischem  An­

          spruch  verkörpert  den  Typus  des  heteronomen Genies  im  Gegensatz  zum

          autonomen Selbstverständnis  der  klassischen  Genieästhetik  (3).  Das  messianische
          Genie ist heteronom insofern,  als es seine Inspiration von Gott bezieht: ein höhe­
          res  göttliches  Selbst,  eine  überweltliche  prophetische  Wahrheit  spricht  aus  ihm.
          Ganz  anders  dagegen  das  autonome  Genie,  das  sich  nicht  als  Mittler  zwischen
          Gott  und  Menschen  versteht,  sondern  sich  kraftvoll  selbst  setzt.  Die
          „Heteronomie“  von  Hölderlins Künstlerbild reproduziert  dabei  nicht einfach die
          phiionische Genievorstellung.  Philonisch-heteronome Elemente  der Dichterinspi­
          ration  (z. B.  die  „sobria  ebrietas“)  werden  vielmehr  nur  anverwandelt,  um  eine
          neue,  dritte  Position  zwischen  „Heteronomie“  und  „Autonomie“  zu  etablieren.
          Denn  Hölderlins  Mittlergestalt  ist  keineswegs  bloß  „Knecht  Gottes“,  wie
          Herakles,  der  „Halbgott,  Zevs  Knecht“  (‘Chiron’,  V.  18)  oder  „Knecht  der
          Verhältnisse“  wie  Antigone.  Sie  ist  vielmehr  eine  mythomessianische Kunstfigur
          als  Spiegel  eines  lyrischen  oder  epischen  Ichs,  die  im  Sinne  einer  grundsätzlichen
          Nichtautarkie  der Welt und des Menschen konstruiert ist.
              Kapitel III  beleuchtet  Hölderlins Mythisierung des semitischen  Geistbegriffs
          mit ikarischer Flugmetaphorik als einen ersten rezeptionsgeschichtlichen Beleg für
          messianische  Mythogenese:  Die  Betrachtung  zweier  Schöpfungsmythologien
          innerhalb  der  Bibel  (Genesis  vs.  Weisheitsliteratur)  führte  zuvor  auf  die  Flug­
          vorstellung  und  ihre  Verkörperungen  (Adler,  Taube).  In  der  Flugmythe  fließen
          Schöpfungsmoment  (Genesis)  und  Erlösungsmoment  (Messianität)  zusammen.
          Die Präexistenz am Anfang der Schöpfung wird mit einem Wesen verbildlicht, das
          Gott „vorausfliegt“. Aus dieser Präexistenz wird am Ende aller Tage wiederum der
          Messias  geboren,  der  als  Adler,  Taube  oder  Engel  ebenfalls  mit  der
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