Page 29 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Disposition, Methodik und Begriffe            27


       Flugvorstellung  verknüpft  ist.  Konsequent  sollen  auch  die  drei  übrigen
       mythologischen  Arbeitsbegriffe,  das  Herakleische,  Proteische und  Dionysische

       ausführlich hergeleitet und auf die Werkphasen angewandt werden.
           Das vierte Kapitel  verknüpft  den theologischen und religionsgeschichtlichen
       Ertrag des vorigen Kapitels mit  den Mythen,  die Hölderlin messianisch überhöht
       (Ikarus,  Christus  und  Johannes).  Die  Interpretation  der  beiden  großen
       Christushymnen  (IV. 1  ‘Der  Einzige’  und  IV.2  ‘Patmos’)  entwerfen  eine
       Typologie  der  messianischen  Mythogenese.  Die  Stufen  dieser  Typologie  werden
       markiert durch den proteischen Wandel29 der Messiasfigur vom ikarischen über den
       herakleischen  zum dionysischen  Heros.
           Das  fünfte  Kapitel  wendet  die  Erkenntnisse  aus  den  beiden  großen
       Christushymnen  auf  die  übrigen  Heldengestalten  an,  die  Hölderlin  messianisch
       anreichert  (V.).  Die Dialektik von Geistdisposition und Tatprinzip offenbart  sich
       im  messianisch  aufgeladenen  Mythos  des  „(herrlichen)  Dulder[s]  Ulyß“,30  der
       proteischen Leidensfigur und impliziten Heldennatur,  zu dem Hyperion die deut­

       schen „Musenjünglinge“ als „Fremdlinge im eigenen Haus“ stilisiert (V.l). Das soll
       die Lektüre  einer  Schlüsselpassage  der Scheltrede  zeigen,  die  den  mythologischen
       und  politisch-theologischen  Subtext  berücksichtigt.  Dem  Doppelcharakter  des
       messianischen Mittlers entspricht eine subtile Verschiebung der aktiven zugunsten
       der  passiven  Züge  des  Odysseus:  der  Dulder  wird  betont,  aber  der  „herrliche“
       Triumphator,  der  Rächer  und  Reiniger,  „vertagend“  impliziert.  Es  kommt  zu
       einer dialektischen Spannung zwischen  ausharrender Selbstvervollkommnung  (als


        29  Ein ganzes  Genre kann als Ausdruck solcher  „Proteuskunst“ betrachtet  werden:  Die fikti­
           ven  Briefe  reisender Exoten,  die  Europa  aus  der  Sicht  eines  Orientalen,  Afrikaners  oder
           Asiaten einer aufklärerischen Kritik unterziehen. Auch Hölderlin bedient sich dieser Mög­
           lichkeiten  der proteisch  verdeckten  Schreibweise,  wenn  er  mit  seinem  Hyperion  auf  die
           satirische  Variante  des  Briefromangenres  in  der Tradition  der Lettres persanes  (1721)  von
           Montesquieu  anspielt.  Als  Neugrieche  verkörpert  Hyperion  eine  besonders  brisante  Ge­
           stalt  des  „reisenden  Exoten“.  Passagen  aus  der  berühmten  Scheltrede  sind  fast  wörtliche
           Übernahmen  aus  den  Polemiken  dieser  reisenden  Fremden  (z. B.  aus  Friedrich  Wilhelm
           Meyerns  Abdul  Erzerum’s  neue persische  Briefe.  Theil  1.  Wien  und  Leipzig  1787  -  vgl.
           Wiedemann/Charlier  1998:  573-579, besonders 577f.). Unverzichtbar für die Erschließung
           der Briefromane nach dem Schema Montesquieus ist Winfried Weißhaupts Standardwerk.
           Bei  ihm  findet  sich  auch  ein  vollständiger  Überblick  der  deutschen  Beispiele  (vgl.
           Weißhaupt  1979: I,  149-159). In diesem Zusammenhang  verdiente auch ein weiteres Werk
           zusätzliche  Betrachtung:  Reise  des  jungen  Anacharsis  durch  Griechenland.  Aus  dem
           Französischen des Hm [Jean-Jacques] Barthelemy  (6 Teilbde., Berlin und Libau  1789-93). Das

           Werk könnte eine weitere wichtige Quelle für die fiktive Briefform des Hyperion gewesen
           sein.  Barthelemy  kombiniert  in  seiner  Griechenlandbeschreibung  Elemente  der  fiktiven
           Reise  mit  historischer Systematik.  Der „wilde“  Skythe erhält dabei  fiktive Briefe  von  be­
           rühmten Griechen des klassischen Zeitalters.
        30  Bei  Hölderlin:  „Dulder  Ulyß“;  bei  Johann  Heinrich  Voss:  „herrlicher Dulder  Odysseus“
           z. B. im XVI. Gesang, VV. 90,  186, 225, 258 und 266 (Voss [1793] in Homer 1980: 223).
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