Page 30 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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28                            Einleitung


           Anzeichen  „individueller Eschatologie“)  und einem politischen  Erlöserpathos  (als
           Symptom  einer „universellen Eschatologie“).  Die  politische Mythologie verkappt
           dabei die unmittelbare Aussageabsicht, verstärkt jedoch ihre polemische Brisanz.
               Der  tätige  Aspekt  bleibt  auch  im  dilatorischen  Zustand  erhalten,  wie  die

           Herakleserwartung des proteischen Helden  Chiron  in  der gleichnamigen  Ode und
           ihrer Vorstufe ‘Der blinde Sänger’ belegt. Die Hoffnung des lyrischen Ichs auf die
           Rettung durch Herakles  überwindet  das Tragische  im  Zeichen  des Messianischen
           (Kapitel  V.2).  Dabei  kommt  es zu einem Zwischenzustand des transzendierenden
           Messiasverständnisses,  wie  die  Konjunktur  paulinischer  („transzendenter“)
           Theologeme  im  Umkreis  von  ‘Friedensfeier’  und  Chiron-Ode  verdeutlicht.  Der
           kentaurische  Weise  beweist  als  Schwellenfigur  eine  Affinität  zur  Paulusgestalt,
           einem  Apostel,  den  Hölderlin  einmal  als  „Mann  [s]einer  Seele“  bezeichnet  hat
           (Brief an  Ebel  vom  9.11.1795,  KHA  III: 207,  Z.  24).  Hölderlins  Lieblingsapostel
           ist wie Chiron eine Gestalt, die an ihrer Zerrissenheit leidet,  kurz:  die  von einem
           „Stachel“  getrieben werden (vgl. Apg 26,  14 und Klausner  1950:  306, Anmerkung
           Nr.  16 und 17).31

               Zuletzt  sollen  die  beiden  proteischen Heldentypen  Ulyß  und  Chiron  noch
           einmal verglichen  werden;  dabei  spielt  Achill  eine vermittelnde  Rolle.  Ein Rück­
           blick auf Schillers Orestvergleich schließt diese Parallelisierung ab (Kapitel V. 3).


                                         Methodik

           Ich  verwende  in  meiner  Argumentation  spekulative  Arbeitsbegriffe.  Dies  ge­
           schieht zum einen auf analytischer Ebene durch einen Begriff wie „rejudaisierend“;
           zum  anderen  benutze  ich  mythologische  Begriffe  wie  das  Ikarische,  Herakleische,


           Proteische  und Dionysische. Sie sind auf der synthetischen Ebene  der Interpretation
           angesiedelt, weil sie selbst ein bildlich-metaphorisches Element enthalten.
               Der Begriff der „Rejudaisierung“  aktiviert eine polemische Bedeutung für die
           beschreibende  Interpretation.  Das  Wort  entstammt  der  theologischen  Polemik
           der Lutherzeit,  da man protestantische  Sekten  als  „judaisierende  Ketzereien“  ver­
           dammte.  Aber der  Begriff „judaistisch“  oder  „judaisierend“  war  auch  im Diskurs
           des  18.  Jahrhunderts  gängig  (vgl.  Corrodi  1781  [1794]),  und  die  moderne  Re­
           ligionswissenschaft  hat  ihn  aufgegriffen  (Scholem  1968:  35).  Die  Aktivierung
           polemischer  Begriffe  für  analytische  Zwecke  erscheint  also  angebracht.  Wie  der
           mythologische  Arbeitsbegriff die  Unschärfe  des Mythenbildes  nutzt, vermag  der
           historische Begriff der „Judaisierung“  die Rekonstruktion  einer Denkweise zu  er­
           leichtern,  die  sozusagen  schon  ausgestorben  ist:  Hölderlins  Teilhabe  am

           rejudaisierenden Messianismus im  Geiste  von  Neuer  Mythologie  und frühroman-

            31  Die Parallelisierung von Paulus und Chiron ergibt sich über die Etymologie der Wendung
               „Stachel des Gottes“ (‘Chiron’, V. 37). Das Wort Kevtpov („Dorn“, „Stachel“ oder OKÖXovy,
               „Pfahl“  [Luther])  hat  nämlich  eine  paulinisch-sophokleische  Doppelsemantik  (vgl.
               1 Kor 15, 55f.; 2 Kor 12, 7; Philoktet, V.  1039).
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