Page 31 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Disposition, Methodik und Begriffe 29
tischem Synthesedenken oder an der chiliastischen „Schwärmerey“ seiner Zeit
(Corrodi 1794 [1781] I: VI).
Der Begriff „Mythos“ („mythologischer Arbeitsbegriff“, „messianische My-
thogenese“) ist nicht im Sinne von Claude Levi-Strauss gemeint (Levi-Strauss 1976:
11-28). Denn Hölderlin imitiert keineswegs die „Bricolagen“ oder die mythische
Einbildungskraft eines Volkes mit seiner anoynmen Sagenüberlieferung (ebd.
llf.). Er adaptiert vielmehr bestimmte Episoden, Konnotationen und Attribute
aus der Mythologie (Mythographie der Handbücher; klassische Dichtung), um sie
seinen poetischen und philosophischen Absichten und vor allem den Intentionen
seiner messianischen Mythogenese unterzuordnen. Die Mythologie (nicht der
Mythos!) ist ihm Formenfülle und prototypisches Material für seine Poesie.
Man muß also unterscheiden zwischen Mythos (im Gegensatz zu Logos), My
thologie (als rezeptive Mythographie) und (poetischer, produktiver) Mythogenese.
Hölderlins Mythogenese ist nicht nur individuelle Nachahmung eines kollektiven
Produktionsprozesses von Mythen en miniature, also bloß quantitativ vom kol
lektiven Mythosarchiv zu unterscheiden; sie ist etwas qualitativ anderes.
Die mythologischen Arbeitsbegriffe sind Mittel, Hölderlins poetische
Kunstmythen zu rekonstruieren, um der mythischen Archetypen habhaft zu
werden, die er literarisch variiert. Ergänzend zur Unterscheidung von Mythos, My
thologie und Mythogenese bilden die mythologischen Arbeitsbegriffe also eine vierte
Dimension: die der analytischen Betrachtung von Hölderlins synthetischem Ver
fahren.
Dabei geht es mir bei meiner Unterscheidung zwischen Ikarischem,
Herakleischem und Proteischem nicht etwa darum, bestimmte „Existenzialien“ zu
plagiieren oder philosophisch korrekte Systembegriffe zu prägen; vielmehr sind
die vier Arbeitsbegriffe Sammelbezeichungen für bestimmte mythische Vorlieben
in Hölderlins poetischem Bildgebrauch.32
Die Arbeitsbegriffe verknüpfen so die Rekonstruktion von
Hintergrundwissen des 18. Jahrhunderts mit der Reduktion von Hölderlins
poetischem Mythenkosmos auf bestimmte Typen in einem viergliedrigen
Syntagma. Hermeneutische Begriffe („rejudaisierend“) und heuristische Ebene
(Ikarisches, Herakleisches usw.) erscheinen so verbunden, wobei die Heuristik im
Verlauf der Untersuchung an Gewicht gewinnt.
32 Flugmetaphorik (ikarisch); Wonfeld Tatkraft und Kühnheit (herakleisch); Strombilder,
Doppelwesen, Kälte, Nacht, Winter (proteisch); Pflanzen- und Doldenmetaphorik
{dionysisch).