Page 32 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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30                            Einleitung


                                          Begriffe

           Messianität  als  Denkfigur.  Wenn  Hölderlin  künstlerische  und  philosophische
           Konzepte einer neuen politischen und  kulturellen  Ordnung entwirft  und sie  mit
           einer  Erfüllungs-  oder  Erlöserfigur  verknüpft,  bedient  er  sich  messianischer

           Figuren. Dies  im  doppelten  Wortsinne.  Zunächst  in  der  Bedeutung  von
           „Denkfiguren“:  Hölderlin  denkt  messianische  Ideen  und  gestaltet  sie  dichterisch
           aus  („Revolution  der  Vorstellungsarten“,  „das  Geschlecht  der  kommenden
           Jahrhunderte“,  „Reich  Gottes“,  „goldene  Zeit“).  Diese  Denkfiguren  oder  Ideen
           nehmen  zweitens  eine personale  Gestalt  an,  wenn  er  sein  lyrisches  oder  episches
           Ich  figürlich  mythisiert  oder  maskiert.  Eine  solche  Personfizierung  von  Ideen
           kann  zugleich  auch  eine  Idealisierung  von  historischen  oder  lebenden  Personen
           sein.  Hölderlin verleiht  dem  Künstler  damit  die Rolle  eines  Künders,  Propheten
           und messianischen Mittlers, der eine neue Werte- und Herrschaftsordnung herbei­
           führen  soll.  Dieses  doppelte  Bedeutung  von  „Figur“  zielt  ins  Zentrum  der
           Problematik  des  Ideenbegriffs,  wie  sie  Hans-Joachim  Mahl  in  seinem
           Standardwerk  „Die  Idee  des  goldenen  Zeitalters  im  Werk  des  Novalis“  (1965)
           skizziert hat:

               Die  ,Idee‘  des  goldenen  Zeitalters ist  schon  dort,  wo  sie  im Bereich der antiken  Gei­
               stesgeschichte  auftaucht  und  in  ihren  verschiedenen  Ausprägungen  als  Mythos,  als
               philosophischer  Gedanke  und  als dichterisches  Symbol  betrachtet  werden  kann,  nie­
               mals bloßer Begriff, sondern immer zugleich auch Bild. [...] Das .Ideelle1 ist hier immer
               zugleich das Ideale  im Sinne einer konkreten,  in Bildern  ausgeformten und vergegen­
               wärtigten Wunschvorstellung.  (Mähl 1965: 4 -  Hervorhebungen original)
           Diese  „figürliche“  (also  bildlich-begriffliche)  Doppelstruktur  der  messianischen
           Idee  (oder  der  „Idee  des  goldenen  Zeitalters“)  ist  auch  für  das  Verständnis  von
           Hölderlins messianischer Mythogenese  entscheidend:  Am  Schnittpunkt  zwischen
           Realität und Idealität schöpft er aus seiner mythischen Phantasie die dialektischen
           Bilder  für  seine  (eigene)  Wunschbiographie,  für  seine  enthusiastischen  Pro­
           jektionen  auf  Freunde  wie  Böhlendorff,  Sinclair  oder  Ebel,  für  die  Verehrung
           seiner  Vaterfiguren  (Klopstock,  Schiller,  Heinse)  und  für  seine  späte
           „Fürstenfrömmigkeit“  (Landgraf  und  Prinzessin  von  Hessen-Homburg,  die
           Prinzessin  Amalie  von  Dessau,  vgl.  KHA  I:  648f.).  Diese  Funktionalisierung  der
           Idee  als  Bild  und  Begriff  möchte  ich  auch  meiner  Analyse  von  Hölderlins
           mythomessianischer  Verfahrensweise  zugrunde  legen.  Ich  glaube,  daß  sich  die
           Spuren  dieses  bildlich-ideellen  Gestaltungsprinzips  sogar  in  den  feinsten

           poetischen Partikeln  bis  unmittelbar vor (und vielleicht  sogar jenseits) der  Zäsur

           von  1806 finden lassen (vgl.  das Dädalus-Bild im Turmgedicht ‘An Zimmern’,  auf
           das ich noch  eingehen werde).
               Selbstverständlich  handelt  es  sich  bei  den  späten  Notaten und Bruchstücken
           nicht mehr um  „Gedankenlyrik“  oder „Ideenpoesie“  im  engeren Sinne.  Gewiß  ist
           Hölderlin  in  Bereiche  der  Vieldeutigkeit  und  in  Höhen  der  Hermetik
           vorgedrungen,  die sich letztlich  meinem  Mythensyntagma  genauso entziehen wie
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