Page 33 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Disposition, Methodik und Begriffe 31
jedem anderen Deutungsversuch. Mein Ziel sind aber nicht die entlegensten
Gipfel von Hölderlins Dichtung, sondern diejenigen Bedeutungen und Bilder, die
sich den mythologischen Arbeitsbegriffen beinahe mühelos erschließen und diese
Höhenzüge der deutschen Sprache als das erweisen, was sie noch an ihrer steilsten
Stelle sind: sinnhaft und schön.
Idealität und Pluralität. Das Denken in messianischen Figuren hat aber noch eine
weitere Voraussetzung: Messianismus ist kein dogmatisch oder historisch streng
eingrenzbares Phänomen im theologischen Systemdenken. Vielmehr ist es ein
ideelles Konzept in verschiedenen historischen, politischen, religiösen und
sozialen Einbettungen. Immer wieder in der Religionsgeschichte hat es
messianische Bewegungen und selbsterkorene messianische Führer gegeben. Es
gibt also ein ideelles Substrat, das sich in seiner jeweiligen historischen, kon
fessionellen oder politischen Ausprägung zu einer bestimmten Form und
insgesamt zu einer Menge von „messianischen Ideen“ akkumuliert. Eine endliche
Menge von messianischen Ideen, wirklichen oder Pseudo-Messiassen gibt es nicht.
Vielmehr manifestierten sich verschiedene messianische Ideen in unterschiedlichen
Sekten oder sozialen Bewegungen (z. B. Essener, Hussiten, Waldenser, Taboriten,
Wiedertäufer und die Jünger charismatischer Messiasse wie Bar Kochba [132-135
n. Chr.], Jacob Frank [seit 1756] oder Sabbatai Zwi [seit 1666], vgl. Cohn 21988
und Corrodi 1794 [1781], III/1 und III/2). Neben der religiösen Offenbarung gab
es philosophische (z. B. Thomas Morus’ „Utopia“) oder literarische Gestaltungen
messianischer Ideen (z. B. „Bund der Nemesis“ im Hyperion).
Damit ist das Konstrukt einer messianischen Idee keine an sich fixierbare dog
matische oder theologische Denkfigur, sondern sie fächert sich in der konkreten
Wirklichkeit auf zur Menge der politisch gewendeten, zeitlich bedingten, propa
gandistisch instrumentalisierten, poetisch anverwandelten oder spekulativ
aufgeladenen messianischen Ideen. Die Essenz messianischen Denkens ist ideell
und plural.
Zur Idealität. Der Begriff der messianischen Idee hat in der Forschung eine eigen
ständige Geschichte, und zwar von der jüdischen Religionswissenschaft bis zur
Hölderlinforschung. Dem entspricht Gershom Scholem mit seinem klassischen
Aufsatz „Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum“ (1959) ebenso
wie z. B. Joachim Rosteutscher mit seiner Studie „Hölderlins messianische Ideen“
(1966). Interessant an diesem Titelvergleich ist die Pluralisierung der Idee(n).
Während Scholem versucht, die messianische Idee des Judentums typologisch zu
reduzieren, erkennt Rosteutscher bei Hölderlin eine vielschichtige Abstufung des
judäochristlichen Messianismus. Rosteutscher zufolge poetisiert und säkularisiert
Hölderlin die messianischen „Urworte“ (Jacob Taubes) der jüdisch-christlichen
Tradition und adaptiert im Phasenverlauf seines Werks die Grundzüge verschie
dener messianischer Ideen. So favorisiert Hölderlin eine je andere Nuance des
politischen Messianismus, von den „Musenjünglingen“ der Tübinger Hymnen