Page 34 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 34

32                            Einleitung




          über  Hyperion und  Empedokles bis  zum  „Endkaiser-Chiliasmus“  der  späten  Ge­
          sänge  und  Fragmente  (Rosteutscher  1966:  49-72).  Eine  solche  Pluralisierung  der
          messianischen  Idee  zu  säkularisierten  messianischen  Ideen  scheint  in  der  Typo­
          logie  der  Messianismen  bei  Scholem  aber  bereits  angelegt  (z. B.  „restaurativ“,
          „mystisch“,  „apokalyptisch“  oder  „transitorisch“,  vgl.  Scholem  1968:  7-74).  Die
          Dynamik  der  messianischen  Idee  des  Judentums  begründete  zwangsläufig  ihre
          dogmatische  oder  mystische  Aufladung,  ihre  poetische  Anverwandlung  und
          politische Instrumentalisierung.
              Eine  besondere  Brisanz  besitzt  der  Begriff  der  messianischen  Idee  bei
          Scholem:  An  Kant  und  dem  deutschen  Idealismus  geschult,  klassifiziert  der
          Religionswissenschaftler  die  jahrtausendealte  Erlösungsvorstellung  der  jüdischen
          Religion  mit  einem nachkantischen Begriff der Idee.  Neokantianer wie Hermann
          Cohen  haben  die  moderne  jüdische  Philosophie  auf  ganz  eigene  Weise  mit  dem
          deutschen Idealismus verbunden  (Cohen 21988).  Aber  dieser  Zusammenhang ver­
          diente eine eigene Untersuchung.
              Zwei  weitere  Ideenbegriffe  müssen  für  die  Diskussion  von  Hölderlins  mes­
          sianischen  Ideen  zumindest  erwähnt  werden,  und  zwar  die  zeitgenössischen
          Ideenbegriffe von  Friedrich  Wilhelm Joseph  Schelling  (1775-1854)  und Friedrich
          Immanuel  Niethammer  (1766-1848).  Schelling  war  Hölderlins  Mitschüler  und
          Kommilitone  in  Maulbronn  und  Tübingen;  Niethammer  akademischer  Lehrer
          und  Freund  Hölderlins  in  Jena.  Schelling  suchte  in  der  platonischen  Idee  ein
          Vorbild  für  sein  absolutes  Ich  (im  7z?n<zeM5-Kommentar,  1794;  vgl.  Franz  1996).
          Auf  eigenwillige  Weise  verinnerlichte  Schelling  dabei  den  humanistischen
           „Mittelplatonismus“  Marsilio  Ficinos  (1433-1499).  Das  stand  im  Zusammenhang
           mit  den  Hauptströmungen  der  deutschen  Platonrezeption  im  18.  Jahrhundert
           (vgl.  Franz  1996).  Niethammers  Kant-Exegese  in  Jena  motivierte  dagegen  Höl­
           derlins  Vorhaben,  über  die  „Grenzlinie“  des  Kantischen  Ideenbegriffs
           hinauszugelangen  (vgl.  Brief an  Niethammer vom  Frühjahr  1796,  KHA III: 225,
           ZZ.  18-29).  Es  fällt  schwer,  in  den  ganz  späten  Gedichtfetzen  und  hymnischen
           Schemen  noch  das  klassische  Modell  von  Idealität  und  Realität  (welcher  philo­
           sophischer Färbung auch immer) zu erkennen. Dennoch bleibt der ideell-bildliche
           Doppelcharakter von Hölderlins mythomessianischer Spekulation bis zu den letz­
           ten  poetischen  Spuren  vor  der  Zäsur  von  1806  intakt.  Das  beweist  die  Kristal­
           lisationsstruktur  auch  kleinster Bruchstücke,  die  stets  einen  ikarischen  und einen

           herakleiscben Bildrest  vereinen  (z. B.  ‘Der  Einzige’,  V.  80f.;  ‘An  die  Madonna’,
           V. 34;  vgl.  die  „figura  mythologica“  in  Kapitel  III.3).  Hölderlin  verläßt  also
           letztlich  nicht  den  idealistischen  Grund  philosophischer,  poetischer  und  theo­
           logischer Spekulation;  er  atomisiert  ihn  nur.  Immer wieder  zeugen  die  Titel  der
           letzten  geplanten  Gedichte  von  einem  „idealistisch“  anivisierten  thematischen
           Kern,  wie  das  Totengedicht  auf Klopstock  (Fragment-Nr.  59)  oder der  Entwurf
           ‘Die  Schlange’  (Nr.  77).  Das  soll  nicht  heißen,  daß  die  späten  Skizzen  noch
           Ideenpoesie in einem engeren Sinne seien. Es ist offensichtlich, daß letzte Titel wie
           ‘Der  Frühling’  (Nr.  87),  ‘Der  Herbst’  (Nr.  88)  oder  ‘Das  Leben’  (Nr.  90)  zur
   29   30   31   32   33   34   35   36   37   38   39