Page 35 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 35
Disposition, Methodik und Begriffe 33
allegorischen Regression der „Turmgedichte“ überleiten. Inwieweit Hölderlins
Lyrik nach 1806 auf ein voridealistisches Niveau zurückfällt oder sogar die
„allegorische“ Moderne vorbedeutet, ist Thema aktueller Forschungen (zur
„späten Allegorie“ bei Hölderlin vgl. Haverkamp 1996).
Obwohl der philosophische Begriff der Idee zur Zeit Hölderlins sehr viel
schichtig war, werde ich philosophische und historische Ideenbegriffe hier nicht
weiter entwickeln. Der Begriff „messianische Idee“ ist im folgenden vielmehr im
Sinne von messianischem „Konzept“ oder „Denkfigur“ gemeint. Dies ganz im
Sinne anderer Untersuchungen bestimmter „Ideen“ bei Hölderlin, wie z. B. der
„Idee des Friedens“ (Keller-Loibl 1995) oder des „goldenen Zeitalters“ bei
Hölderlin (Christiansen 1947; Mähl 1965). Hölderlins messianische Ideen fassen
dabei andere wichtige Leitbegriffe seiner Poesie und Theorie auf einer höheren
Ebene zusammen. So sind z. B. die Idee des Reiches, die Idee der Liebe oder die
Idee der Freiheit letztlich ebenfalls vor allem messianiscb fundiert.33
Zur Pluralität: Die vielfältige Auslegung und Variation der messianischen Idee(n)
in Judentum und Christentum zeigt, daß die messianische Verkündigung so etwas
wie den neuralgischen Punkt des Monotheismus darstellt. Der Messianismus ist
gleichsam das Einfallstor für Figurationen und Hypostasen des Einen Gottes. Die
Struktur der Messiasverheißung hat von Anfang an zu mythischen, historischen
oder politischen Projektionen verleitet, und zwar vom Kyruslied Jesajas bis zum
geistigen „Menschensohn“ Daniels, der sich in die wimmelnde Bilderfülle des
Hellenismus gut einfügte. Im folgenden referiere ich nach Collins [in
Charlesworth 1983: I, 15-18; 317-325] (Sibyllinische Orakel); Collins 1984: 2-24
(Buch Daniel); und Faber 1994: 141-163 (Cumäische und Judäische Sibylle).
Die Vielgestaltigkeit der Messiasfigur bei Jesaja beginnt mit der Tatsache, daß
hier zunächst ein Nichtjude oder „Fremder“ zum Auserwählten der Israeliten er
nannt wird; zudem wird Kyrus als „Perser“ (Babylonier) politisch gegen die
Assyrer instrumentalisiert. Schließlich reicht die orientalische Aura des Messias
aus Jesaja bis in die Römerzeit, um die hellenistisch-römische Zivilisation mit dem
Gespenst einer dunklen messianischen Kraftnatur aus dem Osten zu schrecken.
Die diametrale Auslegung der messianischen Weissagung in den Sibyllinischen
Orakeln dokumentiert diese Pluralität der Verheißungsträger. Berief sich Vergil in
seiner 4. Ekloge auf das Zeugnis der Cumäischen Sibylle, um seinen Kaiser
Augustus als prophezeiten puer nascens zu feiern, griffen die jüdischen Zeloten
33 Vgl. dazu auch Hyperions Einwurf in der Staatsdebatte mit den Nemesisbründern: „Ihr
seht von selbst, daß hier alle die Ideen, vom ewigen Frieden u.s.w. nur untergeordnete Ideen
einer hohem Idee sind. Zugleich will ich hier die Prinzipien für eine Geschichte der
Menschheit niederlegen, und das ganze elende Menschenwerk von Staat, Verfassung, Re
gierung, Gesetzgebung - bis auf die Haut enblößen.“ („Entwurf - Das älteste
Systemprogramm des deutschen Idealismus“, KHA 11:576, ZZ. 5-11 - Hervorhebungen
original)