Page 57 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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D ie akademischen Grundlagen                 55

           verloren,  neue  Ideen,  neue  Individuen  rissen  mich  hin,  aber  Dir  ist  mein  Herz  treu
           geblieben. (KHA HI:  130, ZZ. 7-12)
       Dem  Begriff  „Metamorphose“  kommt  eine  besondere  Bedeutung  zu.  Hölderlin
       löst sich nämlich nicht  nur gleichsam metamorphotisch von den geistigen Grund­
       lagen,  die  ihm  Familie,  Lehrer  und  Stiftsprofessoren  vermittelten.  Die
       Vergeistigung  seines  Bildes  vom  Christentum,56  die  natürliche  und  ästhetische
       Säkularisierung  heilsgeschichtlicher  Größen  erfährt  auch  Synthesen  und
       Steigerungen,  eine Art  dialektischer Metamorphosen.57 Das äußert  sich vor  allem
       in  den  Stufen  der  messianischen  Denkfigur,  die  er  geschichtsphilosophisch  und
       ästhetisch  verinnerlicht.58  Dabei  läßt  sich  grob  ein  dialektischer  Dreischritt



        56  Falk Wagner (1991: 89-92) unterscheidet in seinem Aufsatz „Das Bild des Christentums bei
           Hölderlin“  drei  Phasen von  Hölderlins  theologischer Entwicklung  als  schrittweise  Ablö­
           sung von  den  orthodoxen Lehrmeinungen  der Stiftsprofessoren.  Auch  Wagner  gebraucht
           den Begriff der „Metamorphose“ in einem analytischen Sinne (vgl. Wagner  1991: 93):  1. die
           Jugendzeit  der  pietistischen  Einfärbung  seines  Bildes  von  Christus  und  Christentum
           (Nürtingen, Denkendorf, Maulbronn:  1774-1788) 2. den theologischen „Eklektizismus“ der
           Stiftsjahre  (Kant,  Supranaturalismus,  aufgeklärtes  Christentum),  der  mit  seinem
           „Klassizismus“ einhergeht  (1788-93); und 3.  die Universalisierung und Säkularisierung sei­
           nes  Denkens,  die  seine  endgültige  Abwendung  vom  Theologenamt  zur  Folge  hat
           (spätestens  seit  seiner Jenaer Zeit  1794/95).  Ich habe  oben  zu  zeigen  versucht,  daß  in  der
           Stiftszeit  der  Prozeß  des  Übergangs  von einer zunächst  affirmativen  zu einer  modifiziert
           messianischen Haltung Hölderlins  führt.  Wagner markiert die Phasen lediglich  an Eckda­
           ten, die man eindeutig festschreiben kann. Der Begriff der theologischen „Metamorphose“
           dagegen beschreibt gerade die Stufenlosigkeit eines künstlerischen Wachstums auf theologi­
           schem Wurzelgrund.
        57  Der Begriff „Metamorphose“ für die Säkularisierungstendenz in Hölderlins theologischem
           Denken  verweist  auch  auf  das  mythogenetische  Potential  dieses  Vorgangs  selbst:

           Metamorphose ist  eine  Metapher,  die  die  drei  Formen  säkularisierender  Verwandlung  in

           sich vereint.  Pneumatisch funktioniert diese  Metamorphose  als  Transformation  von  heils­
           geschichtlichem  Denken  in  dialektische  Geschichtsphilosophie,  die  schließlich  in
           Politische  Theologie  mündet;  naturhaft  als  passendes  Bild  für  den  vegetativen  Übergang

           und  Inbegriff transitorischen  Denkens; ästhetisch als  mythischer Begriff für  die  gestalteri­
           sche,  die  metamorphotische  Kraft,  die  das  Ungenügen  an  verbrauchter  Dogmatik  und
           unerfüllter  Verkündigung  freisetzt.  Damit  ist  der  Begriff  der  Metamorphose,  den
           Hölderlin selbst für die Säkularisierungen seines theologischen Denkens setzt, bester Beleg
           für  den  Prozeß  der  messianischen  Mythogenese,  der  nicht  nur  Pneumatisierungen
           („Gemeingeist“),  Naturalisierungen  („Keim“,  „Reife“),  Ästhetisierungen  („Theokratie  des
           Schönen“)  und Mythisierungen  („Dulder Ulyß“)  hervorbringt,  sondern  sogar  analytische
           Begriffe, die diesen Vorgang reflektieren.
        58  Auch  Rosteutscher zeichnet  ein  solches  Stufenmodell  im  Sinne  einer allmählichen Meta­
           morphose   von   Hölderlins   „messianischer   Verkündigung“.   Dies   geschieht
           forschungsgeschichtlich aber noch vor der Zäsur, die Pierre Bertaux  1969 mit seiner These
           von  Hölderlins Jakobinismus markierte.  Die  Frage,  ob Hölderlins  Messianismus  Sozialre­
           volutionär ausgerichtet gewesen sei, stellt sich in dieser Form gar nicht mehr. Rosteutscher
           konstatiert  eine  Kontinuität  im Wesen  der  „Verkünder  und  Stifter  der  neuen  Religions-
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