Page 58 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
P. 58

56                       I. Kapitel: Ursprünge

          feststellen,  wobei  im  folgenden  die  entsprechenden  Briefstellen  zusammengefaßt
          und  exemplarisch  in  der  nachgestellten  Klammer  angegeben  werden.  Das  nach­
          folgende  Modell  der  Abstufungen  von  Hölderlins  messianisch-theologischem
          Denken  entspricht  dabei  den  Wandlungen  seiner  politischen  Ansichten,  wie  sie
          die  sozialhistorische  und  biographische  Forschung  herausgestellt  hat  (Bertaux
           1990 [1969];   1978;   Prignitz 1976;  Scharfschwerdt  1970;   1971;  vgl.   auch
          Kirchner 1989 und Brauer 1993).
              Ich fasse das Phasenmodell zunächst kurz zusammen:  Auf die millenaristische
          Begeisterung zur  Zeit  der  Französischen  Revolution,  wie  sie  sich  im  Chiliasmus
          der Hymnen „an die Freiheit“ oder „an die Menschheit“  und im Brief an den Bru­
          der ausdrückt  (KHA III:  109f.), folgt mit der Distanzierung von den Exzessen der

          terreur seit  1794  eine  Mäßigung  (KHA  III:  150-152).  Transitorische  Naturbilder
          und  die  Vorliebe  für  das  Geistige,  die  „unsichtbare  Kirche“  (s.  o.)  des  pneuma­
          tischen  Evangeliums,  und  für  den  Apostel  Paulus  dominieren  (KHA III: 206f.).
          Die Revolutionskriege seit  1795, die Rückschläge der Revolution und der Aufstieg
          Napoleons  sind  die  historischen  Bedingungen  für  dieses  Interim  transitorischen
          Denkens.  Erst  mit  Zuspitzung  der  dramatischen  Ereignisse  in  Europa  -  der
           Triumph Napoleons zeichnet sich mit den ersten Friedensschlüssen von  1799 und
           1801  ab  -  gewinnt  auch  das  immanente  Element  von  Hölderlins  Messianismus
           wieder  an  Kraft  (KHA III: 251-253).  Transzendent-pneumatische  und  immanent­
           apokalyptische Tendenzen verbinden sich schließlich dialektisch zum Glauben an
           die  „Nähe“  und  Baldigkeit  einer  politisch-kosmischen  Weltenwende  um  1800
           (KHA III: 437f.  und  444-446).  Die  großen  Christushymnen  ‘Friedensfeier’,  ‘Der
           Einzige’  und ‘Patmos’ geben davon Zeugnis.59 Der Tyrannenhaß und das Verdikt
           über   den   „Despotismus“   (KHA II:  109,   Z.   25)   der   absolutistischen
           (Fürsten)„Wüstlinge“  (‘Hymne  an  die  Menschheit’,  V. 27)  haben  sich  in  diesen
           Metamorphosen messianischen Denkens dialektisch verkehrt.  Die Stilisierung der
           Fürstenfiguren  zu  Messias-  und  Herosgestalten  in  Widmungen,  Fragmenten  und
           Gedichten  der  Spätzeit  steht  am  Ende  dieses  Prozesses.  Dabei  entsprechen  die
           späten  Begriffe  für  die  Vater-  und  Führerfiguren  wie  den  „Fürsten  des  Fests“
           (‘Friedensfeier’,  V.  112),  die  „Meister  des  Forsts“  (KHA  II: 773,  Z.  10;  KHA

           I: 417, V.  19) nicht mehr den „Königen“ aus dem Empedokles (I, V.  1418) oder den
           „Wüstlingen“  der  Tübinger  Gedichte.  Die  „Fürsten“  sind  vielmehr  „chorisch“
           gedachte  Vertreter  des  Kollektivs,  Genius-Messiasse  ihres  Volkes  (vgl.  „der  Für­
           sten/Chor“, ‘Blödigkeit’, V.  llf.).




               epoche“. Sie verkörpern „[...] jene Verbindung von Religiösem und Politischem, wie sie für
               den Chiliasmus Hölderlins bis zu den spätesten Hymnen [...] typisch bleibt.“ (Rosteutscher
               1966: 50).
            59  Zu den Wirkungen der Französischen  Revolution in  Deutschland vgl.  Scheel  1962;  1966;
               zum sozialgeschichtlichen Hintergrund vgl.  Zmegac  1978:  I,  331-348  und Wehler  1995:  I,
               303-313.
   53   54   55   56   57   58   59   60   61   62   63