Page 59 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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Die akademischen Grundlagen 57
Diese Phasen von Hölderlins Messianismus möchte ich nun mit einigen
exemplarischen Briefstellen in gedrängter Form belegen:
1. Millenarismus und Chiliasmus. Bis einschließlich seiner Tübinger Zeit
denkt Hölderlin noch weitgehend in den Begriffen des modischen Mil
lenarismus und philosophischen Chiliasmus. Seine Sehnsucht geht nach
dem ,,zukünftig[en] Menschengeschlecht“ (Brief an den Bruder von 1793,
KHA III: 109f.). Theologisch predigt und schreibt er zum Teil durchaus
noch auf der Linie der protestantischen Orthodoxie („Prooemium
habendum“, KHA II: 455f. und „Predigt über 2. Joh. 7-9“, KHA II: 457-
459). Die messianischen Elemente seiner Lyrik an die „Ideale der
Menschheit“ sind noch stark topisch und konventionell geprägt (z. B.
durch die stereotype Verwendung des Topos vom Goldenen Zeitalter).
In der Hymnik kündigt sich allerdings die messianische Wendung und
das prophetische Dichterbild an (z. B. durch die Maulbronner Philo-
Rezeption, vgl. den Topos vom „Erstgeborenen“ in der ‘Hymne an den
Genius Griechenlands’).
2. Pneumatik und Transzendenz. Mit der wachsenden Skepsis gegenüber
Pfarrvikariat und Schultheologie zum Ende der Tübinger Zeit und der
großen Zäsur, die die Fichtebegegnung in Jena 1794/1795 für Hölderlin
bedeutete, gesteht sich Hölderlin erste „Verwandlungen“
(„Metamorphosen“) seines Denkens ein. Das Jahr 1794 markierte mit der
Hinrichtung Robespierres auch Höhepunkt und Ende der blutigen Zeit
des Terrors in Frankreich. Hölderlin äußert seine Genugtuung darüber
und distanziert sich von der Französischen Revolution (KHA III: 152,
ZZ. 20-24). Schon in einem früheren Brief an Karl hatte Hölderlin aus
seiner Abscheu vor dem „schändlichen Tyrann[en]“ der Revolution,
Marat, keinen Hehl gemacht (KHA III: 105, ZZ. 8-10). Hölderlin
sympathisierte eher mit Girondisten wie Brissot (ebd. ZZ. 12-14). Po
litisch und philosophisch favorisierte er sogar resignativ-pneumatische
Denkweisen, wenn er von dem Apostel Paulus als dem „Mann [sjeiner
Seele“ spricht (Ende 1795, KHA III: 207, Z. 24). Auch den Revolutions
begriff wendet Hölderlin erstmals in einem „evolutionären“ Sinne, wenn
er von einer „künftigen Revolution der Gesinnungen und Vorstellungs
arten“ schwärmt, die „alles bisherige schamrot“ machen werde (Anfang
1797, KHA III: 252). Denn ein allmählicher Geisteswandel von
„Gesinnungen“ und „Vorstellungsarten“ (durch Erziehung und Verkün
digung etwa), betont den evolutionären Charakter einer Umwälzung. Al
lerdings erhält sich der Gedanke einer geistigen und gewaltlosen Welt
veränderung bis an die Schwelle zum politischen Messianismus, der erst
am Ende des Jahrhunderts zum Durchbruch kommt. Noch in seinem
Brief an den Bruder Karl vom Sommer 1799 spricht Hölderlin von seiner