Page 60 - Robert Charlier: Heros und Messias (1999)
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58                       I. Kapitel: Ursprünge


                  peumatischen  Vorstellung  einer  „ästhetischen  Kirche“  (KHA  III: 358,
                  Z.  18).

              3.  Imminenz und Diesseitigkeit. Im Verlauf und zum Ende der Revolutions­

                  kriege (1795-1797/99)  kommt  es zu einer Gegenbewegung in Hölderlins
                  Denken.  Imminenz und Diesseitigkeit  gewinnen  an  Bedeutung,  verwor­
                  fene  Erlösungshoffnungen  und  Endzeitphantasien  erstehen  in  neuer
                  Gestalt:  als  Elemente  eines  politischen  Messianismus.  In  diesen  Zusam­
                  menhang fällt vor allem die similitudo temporum,  der Vergleich des Jahr­
                  hundertendes um 1800 mit der Epoche, „da Christus in der Welt auftrat“
                  (Brief  an  die  Mutter  Anfang  1799,  KHA  III: 335-342).  Vorstellung  und
                  Begriff einer  „Nähe“  des  Himmelreiches  erhalten  neue  Kraft  (Briefe  an
                  Bruder  und  Schwester,  KHA  III: 437f.  bzw.  444-446,  beide  1800).  Höl­
                  derlin bedient sich in beiden Briefen der prophetischen Formel „die Zeit
                  ist nahe“. Im Rahmen dieser Wende zu Denkfiguren des politischen Mes­
                  sianismus  erhält  auch  Hölderlins  berühmtes  revolutionäres  Versprechen
                  an den Bruder neue Brisanz:  „[...] und wenn das Reich der Finsternis mit
                  Gewalt  einbrechen  will,  so  werfen  wir  die  Feder  unter  den  Tisch  und
                  gehen in  Gottes Namen dahin,  wo  die Not  am  größten  ist,  und wir  am
                  nötigsten sind.“  (Januar 1799, KHA III: 334, ZZ. 30-34).
          Das  Drei-Phasen-Modell  zeigt:  Alle  säkularisierende,  ästhetische  und  mythische

           Verwandlungskunst bleibt Erhaltungskunst  im Dienst am Unwandelbaren: der dia­
           lektischen  Gewißheit  eines  bevorstehenden  „Reich[es]  Gottes“,  das  durch  alle
           Gefährdungen diesseitig garantiert bleibt:

              Ich bin gewiß, daß Du indessen zuweilen meiner gedachtest, seit wir mit der Losung -
              Reich  Gottes!  von  einander  schieden.  An  dieser  Losung  würden  wir  uns  nach  jeder
              Metamorphose,  wie  ich  glaube,  wiedererkennen.  (Brief  an  Hegel,  Sommer  1794,
              KHA IR   146, Z.  11-14)
           Mit  dieser emphatischen Briefstelle appelliert  Hölderlin  vor  allem  an  die  gemein­
           same  spirituelle  Grundlage,  die  politische  Messianität  unter  den  Stiftlern  als  Teil
           ihrer  Revolutionsbegeisterung.  Wie  in  einem  weiteren  Brief  an  den  Freund  ein
          Jahr  später  hält  Hölderlin  mit  seinen  „Losungen“  und  „Bundeserneuerungen“
           (z. B.  noch  1801  mit  dem  Bruder  Karl,  KHA  III: 450,  ZZ. 30-36)  an  theologisch
           und  religiös  fundierten  Prinzipien  fest.  Modische  Messianität  angesichts  der
           Revolution in Frankreich  und der unwillkürliche Glaube  an eine Erweckung der
           amtlichen  Theologie  im  Stift  gleichsam  „von  unten“  waren  für  die  Stiftler
           zunächst  durchaus  vereinbar.  Das  hört  man  aus  Hölderlins  Briefzeilen  an  Hegel
           heraus,  wenn  er  den  Freund  gar  zum  „Totenerwecker“  der  Tübinger  Theologie
           ausruft,  der  es  reformerisch  mit  den  „Totengräbern]“  im  Apparat  des  Stifts
           aufzunehmen  habe  (Brief  vom  25.  November  1795,  KHA  III: 208,  ZZ.  19-22).
           Hölderlin  bestärkt  Hegels Pläne,  eine Repetentenstelle  in  Tübingen  anzunehmen
           mit  der  Aufforderung,  daß  das  für den  begabten  Freund  geradezu  eine  „Pflicht“
           darstelle  (ebd.  Z.  20).  Der  „Marsch  durch  die  Institutionen“  war  den  Stiftlern
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